Als vor knapp drei Jahren der Freiburger CVP-Hofhistoriker Urs Altermatt, favorisiert vom CVP-Bundesrat Flavio Cotti, als Präsident der Historiker-Kommission (heute Bergier-Kommission) im Gespräch war, da erhob der Zuger Historiker und SGA-Politiker Josef Lang erfolgreich Einspruch. "Die wichtigste, wenn auch nicht die schlimmste judenfeindliche Kraft in der jüngeren Schweizer Geschichte ist der politische Katholizismus - die dominierende Kraft innerhalb des antiliberalen und antisozialistischen Konservatismus. In den beiden Zeiträumen, in denen die sogenannte ‚Judenfrage' ein besonderes Politikum war, in den 1860er und 1870er Jahren (Emanzipation und Kulturkampf) und in der Zwischenkriegszeit (Aufschwung des Faschismus und der Fronten) gehörten die Katholisch-Konservativen mit zu den Hauptpropagandisten." Lang wies nach, dass bei Altermatt, seit 1980 Professor für Zeitgeschichte an der Universität Fribourg und Verfasser mehrerer Standardwerke zum Schweizer Konservativismus, der offensichtliche Antisemitismus ganz einfach nicht vorkam.
Übersehen? Verdrängt? Ausgeblendet? Eine schlechte Voraussetzung für den politisch sensiblen Posten des Präsidenten der Historikerkommission. Altermatt reagierte ungehalten, Lang, der Linksalternative, solle sich gescheiter um den Antisemitismus der extremen Linken kümmern. Wochen später kündigte er Lehrveranstaltungen zum katholisch-konservativen Antisemitismus an und bereits einige Monate darauf ein Buch.
Früheres Schweigen
Zwei Jahre später als zuerst angekündigt, aber kurz vor dem Flüchtlingsbericht der Bergier-Kommission ist nun Altermatts Studie «Katholizismus und Antisemitismus» erschienen. Der CVP-Historiker kann sich nicht zurückhalten, nochmals den Linken eins auswischen: "Zulange hatte sich die 68er-Generation in die Faschismus-Debatten verbissen und dabei den Antisemitismus falsch beleuchtet, wenn nicht sogar in antiimperalistischen Revolutionsträumen vollständig ausgeblendet." Belegstellen für diese Dummheit vom Akademiker-Stammtisch bietet Altermatt keine, hingegen beantwortet er die naheliegendste Frage nicht: Wie konnte es kommen, dass die von ihm initierte und repräsentierte ‚Freiburger Schule' den Antisemitismus der Schweizer Katholisch-Konservativen nicht einmal thematisierte? In seinem Vorwort behandelt der CVP-Historiker zwar die Entwicklung der Schweizer Zeitgeschichtsforschung seit 1945. Aber man erhält den Eindruck, es sei eine Art "Weltgeist', welcher die Fragestellungen der HistorikerInnen vorgab.
Oder war es ganz einfach politischer Opportunismus? Immerhin gab es ja einige "Geschichtsdebatten von nationaler Bedeutung" (Altermatt), die aber meist von "Journalisten, Publizisten und Schriftstellern" und "nicht von Historikern aus dem Universitätsbetrieb" angeregt wurden. Warum aber nahmen die Akademikerhistoriker die Bälle nicht auf? Wie dem auch sei, irgendwie kam "die Wende" (Altermatt), die "weitgehend von aussen aufgedrängte Diskussion über die Stellung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg". Und damit Altermatts Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus der Schweizer Katholisch-Konservativen. Altermatts früheres Schweigen erstaunt umso mehr, als der CVP-Historiker nun feststellt: «Im rechtskatholischen Denken stellte der Antisemitismus um 1920 einen inhärenten, ja konstitutiven Bestandteil der Weltanschauung dar.»
Hintergrund des katholisch-konservativen Antisemitismus ist die Jahrhunderte währende Tradition der christlichen Judenfeindschaft, welche die Juden wegen ihres Glaubens ausgrenzte und die sich auch in gelegentlichen Progromen äusserte. Unter anderem genährt durch die katholische Liturgie, die Juden noch bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil als 'Gottesmörder' anklagte. Altermatt geht - analog deutscher Historiker - von einer "partiellen Kontinuitätsthese" aus, wonach der christliche Antijudaismus den Antisemitismus religiös stabilisierte und sich mit dem modernen, vielfach rassistisch inspirierten Antisemitismus zu neuen Formen verband. Altermatts abschliessender Befund: "Vor 1945 tradierte die Mehrheit der Katholiken antijudaistische Klischees wie unverrückbare Glaubenswahrheiten. Zugleich übernahmen viele Katholiken mit stillschweigender Billigung der Kirchen Stereotype des säkularen Antisemitismus, ohne zu merken, dass sie sich damit dem biologistisch-rassistischen Antisemitismus annäherten, den die katholische Kirche verurteilte." Schweizer Katholisch-Konservative der Zwischenkriegszeit bedienten sich dabei eines so simplen propagandistischen Tricks, dass es schwer fällt, ihn nicht zu bemerken: Zuerst verurteilten sie den rassistisch inspirierten Antisemitismus der Nationalsozialisten, um gleich anschliessend antijüdische Vorurteile zu verbreiten. Altermatt bringt dafür eine Fülle von Belegstellen, stammen sie nun aus katholischen Lexiken, Familienzeitschriften, Büchern und Zeitungen, aber auch aus Passionsspielen: Immer und vielerorts, Katholische-Konservative machten für kulturelle, gesellschaftliche oder soziale Defizite - oder was sie als solche auffassten - die Juden verantwortlich.
In diesem zentralen Teil seines Forschungsthemas ist Altermatts Studie materialreich begründet und überzeugend geschrieben. Allerdings geht er nur wenig auf die 'Praxis' des katholisch-konservativen Antisemitismus ein. Nichts über soziale Ausgrenzungen, Drohungen und Einbürgerungsverweigerungen, nichts über den praktizierten Antisemitismus der Fremdenpolizisten katholisch-konservativer Kantone. Nur wenig über die wortreiche Zustimmung für die ebenso xenophob wie antisemitisch inspirierte Flüchtlingspolitik. So befürwortete, um nur ein Beispiel zu nennen, der Luzerner KK-Nationalrat Karl Wick die bundesrätliche Abweisungspolitik, obwohl er wusste, dass die Juden "unschuldige Opfer politischer Zustände" seien.
Haltung der Kirche
Die Schwachstellen liegen also an den Rändern des Forschungsthemas, insbesondere auch beim Verhältnis der Kirche zum Nationalsozialismus und beim Verhältnis der Katholisch-Konservativen zu den verschiedenen Faschismen (Italien, Spanien, Portugal, Deutschland). Immer wieder behauptet Altermatt die generelle Opposition der Kirche zum Nationalsozialismus, da dieser 'heidnisch' gewesen sei. Ein überraschender Befund. Mehrfach betont Altermatt, dass der katholisch-konservative Antisemitismus Teil eines antimodernistischen Weltbildes war, verzichtet jedoch darauf, weitere ideologische Affinitäten zu den verschiedenen Faschismen zu erwähnen.
Was noch nicht ist kann ja noch werden: An der Universität Fribourg bearbeitet die Studentin Annigna Touré, wie Altermatt in den Anmerkungen mitteilt, das Thema "Ausländische Professoren an der Universität Fribourg zwischen 1920 und 1945" und da wird man dann auch von den nationalsozialistischen Professsoren an der katholisch-Konservativen Kaderschmiede erfahren und auch wie sich katholisch-Konservative Honorationen anno 1945 für die von der Ausweisung bedrohten Nazis einsetzten.
Urs Altermatt.
Katholizismus und Antisemitismus. Mentalitäten, Kontinuitäten, Ambivalenz.
Huber Verlag, 1999. 58 Franken.
Antisemitische Luzerner Passionsspiele
Urs Altermatt behandelt in seiner Studie auch eine antisemitische Luzerner Produktion, die bis anhin von der Forschung unerwähnt blieb: Die Luzerner Passionsspiele, erstmals 1924 aufgeführt, 1934 und 1938 in überarbeiteter Fassungen wiederholt. Treibende Kraft hinter den Aufführungen der Dreissiger Jahre war der Theaterschriftsteller und Regisseur Oskar Eberle, in Luzern vor allem als Gründer der Luzerner Spielleute bekannt. Eberles Passionspiel wies, so Altermatt, "über den traditionellen Antijudaismus hinaus negative Stereotype über Juden auf und zeichnete sie beispielsweise als geltungsbedürftig, rechthaberisch, rachsüchtig und geldgierig". Auch in anderen Texte hatte sich Eberle deutlich antisemitisch geäussert und sich dabei auch Ideologiefragmente des rassistischen Antisemitismus bedient.
Mit besonders vielen antisemitischen Zitaten berücksichtigt Altermatt den langjährigen Luzerner "Vaterland"-Redaktor, Gross- und Nationalrat Karl Wick, der bereits 1920 als junger Redaktor programmatisch festhielt: «Wir sollen aus kulturellen Gründen Antisemiten sein, aber in der Verneinung des Judentums die richtigen Wege gehen.» In den folgenden Jahrzehnten hielt Wick an seinen antisemitischen Vorstellungen fest, wenn er auch im Sommer 1944 den Mut aufbrachte, vehement gegen die nazideutschen Judenverfolgungen in Ungarn anschrieb, die "grauenhaften Massendeportationen ungarischer Juden" kritisierte und sich selbst eine Intervention der Pressezensur holte. Nur wenige Wochen später verteidigte Wick den bekannten Wiener christlichsozialen Antisemiten Karl Lueger: «Hitler wollte und will die Juden austreiben und vernichten, Lueger wollte einfach die jüdische Vorherrschaft und die christl. Prinzipien in Staat und Gesellschaft wieder zur Anerkennung bringen." Ebenso nüchternd wie zutreffend kommentiert Altermatt: «Der kulturell begründete Antisemitismus lebte in der Mentalität weiter.»
Für lange Zeit von Luzerns Katholisch-Konservativen angefeindet und bekämpft kommt nun Luzerns linkskatholisches Blatt «Die Entscheidung» zum verdienten Lob: Die Zeitschrift, herausgeben von Xaver Schnieper, Bernhard Mayr von Baldegg, Paul Stöckli und Hans Ulrich Segesser von Brunegg, «gehörte zur kleinen Minderheit von Katholiken, die nicht nur den rassistischen Antisemitismus, sondern auch den katholischen Antisemitismus schlechthin verurteilte und 1938 eine offenere Flüchtlingspolitik verlangte". Sonst allerdings kann der Historiker (CVP) wenig Belege für katholischen Mut gegen Antisemitismus und unmenschliche Flüchtlingspolitik anführen.
Hans Stutz
Luzern heute, 2. Dezember 1999
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