Die Schweizer Geschichtsschreibung hat sich - seit dem Ludwig-Bericht von 1957 bis hin zu Guido Kollers Studie über die behördliche Abweisungspraxis - vorwiegend mit der Frage beschäftigt, wie den Flüchtlingen der rettende Übertritt in die Schweiz erschwert oder verwehrt wurde. Weitgehend unerforscht blieb die Frage, wie die Flüchtlinge - und auch die Militärinternierten - in der Schweiz behandelt wurden. Unbestritten ist heute, dass die Schweizer Flüchtlingspolitik von 1933 bis 1945 einerseits antisemitisch inspiriert war und andererseits in der «Kontinuität des instutitionalisierten Überfremdungsdiskurses» (Guido Koller) wurzelte. Oder wie es der Zürcher Historiker und Filmemacher Stefan Mächler in seiner brillanten Studie über die Bevölkerungspolitik der eidgenössischen Fremdenpolizei und der Polizeiabteilung ausdrückt: «Der amtliche Antisemitismus ist Teil der amtlichen Xenophobie und ohne diese nicht zu denken. Aber so wie die imaginierte Gefährlichkeit und Ambivalenz ‹des› Juden diejenige ‹des› Fremden übertreffen, gehen auch die amtlichen Massnahmen gegen Juden über diejenigen gegen andere Fremde hinaus.»
Vor diesem Hintergrund agitierten alle Handelnden der Schweizer Flüchtlingspolitik, die politischen und militärischen Verantwortlichen im Bund und in den Kantonen wie auch die Bewacher in den Internierten- und Flüchtlingslagern. Seit der Machtübergabe an die Nazis war die offizielle Schweiz nicht auf Flüchtlinge vorbereitet, vor allem aber: Die Verfolgten waren nicht willkommen. Aber sie kamen trotzdem, zuerst vor allem aus Deutschland, dann aus dem annektierten Österreich, und Mitte Juni 1940 standen Tausende von französischen und polnischen Soldaten und Offizieren an der jurassischen Grenze. Sie wurden - sehr zum Ärger der Schweizer Zivilbehörden und noch mehr der Militärs - von einem Teil der Schweizer Bevölkerung mit Begeisterung empfangen. Schweizer Militärs erachteten dies als «würdelos». Auf die Ansätze von Bewunderung der nazigegnerischen Kräfte reagierten sie - im vorauseilenden Gehorsam, Nazideutschland keinen Grund zu Interventionen zu geben - mit obrigkeitsstaatlichen Reflexen.
Entehrende Behandlung
Die Schweizer Behörden entschlossen sich, die Polen und Franzosen in wenigen Lagern zusammenzufassen, bald begannen in Büren an der Aare die Arbeiten am «Concentrationslager»: Stacheldraht,Wachturm, rund 120 Baracken auf feuchtem Boden. Bis gegen 2500 polnische Internierte, die bis anhin meist bei Bauern im Einzeleinsatz gelebt hatten, wurden ab Spätsommer 1940 zusammengepfercht und mussten wochenlang untätig herumlungern. Viele der Eingeschlossenen fühlten sich an deutsche Konzentrationslager erinnert. Die Schweizer Wachmannschaften wollten bald Ordnung um jeden Preis herstellen. Internierte wehrten sich gegen die entehrende Behandlung, Ende Dezember 1940 schossen Soldaten gegen die Empörten, mehrere wurden verletzt, einem musste das Bein amputiert werden. Die Revolte gegen Entwürdigung nennen Jürg Stadelmann und Selina Krause - Verantwortliche einer neu veröffentlichten Studie über das «Concentrationslager» Büren an der Aare - wie einst die Schweizer Militärs eine «Meuterei». Das Buch ist Produkt eines grösser angelegten Projektes über das Lager im bernischen Seeland, so soll im Sommer 2000 eine CD-ROM erscheinen, die das gesamte Quellenmaterial enthält. Initiator ist der Luzerner Historiker Jürg Stadelmann, heute Geschichtslehrer an der Kantonsschule Alpenquai. Er veröffentlichte bereits mehrere Arbeiten zur Schweizer Flüchtlingspolitik, vor fünfzehn Monaten das Buch «Umgang mit Fremden in bedrängter Zeit», in dem er eine präzise Auslegeordnung zwischen den verschiedenen Flüchtlingskategorien und ihrer unterschiedlichen Behandlung leistet.
Zusammenhänge fehlen
Die junge Historikerin Selina Krause, die den Text zum Buch weitgehend verfasste, beschäftigt sich vorwiegend mit den Fragen: «Wie kam es zum Bau dieses Lagers, und wie ist der geprägte Begriff ‹Concentrationslager› zu verstehen und zu beurteilen? Wie sah das Lager aus, und was ereignete sich dort? Wer waren die Lagerinsassen, und wie sah ihr Alltag aus? Wie verhielten sich die Bewacher und die Lagerleiter, und wie reagierte die ansässige Bevölkerung?» Sie stellt das Lager jedoch weder in den flüchtlingspolitischen noch in einen gesellschaftlichen Zusammenhang und kann deshalb weder die Motivationen der übergeordneten Behörden erhellen noch jene der Lagerkommandanten. Kleines Detail: Deren Namen lassen sich - wenn überhaupt - nur schwer erschliessen. Wieder einmal haben die Schweizer Täter keinen Namen, deren soziale Herkunft und deren gesellschaftliche Stellungen und auch deren militärische Karrieren bleiben unerwähnt. Nur einmal heisst es ganz nebenbei in einem Quellentext - von Krause unkommentiert - über den Lagerkommandanten E. Lindt, dass er wegen Alkoholismus als Kompagniekommandant abgesetzt worden sei. Für die Bewachung von Flüchtlingen schien der «Meisterknecht bei Nationalrat Ueltschi in Boltigen» den Flüchtlingsbehörden immer noch geeignet. Beziehungskorruption oder Symptom für den Stellenwert der Flüchtlingsbetreuung?
Bereits nach mehrmonatigem Betrieb des «Concentrationslagers» war den Behörden klar, dass ihr Konzept der zentralen Unterbringung gescheitert war. Das «Polenlager» blieb jedoch - wenn auch mit weniger Insassen - noch bis Frühling 1942 weiter bestehen. Und bei jedem neuen Flüchtlingsansturm (jüdische Flüchtlinge, später italienische Widerstandskämpfer, dann russische Gefangene aus deutschen Lagern) wurde das Lager wieder in Betrieb genommen. Wie den polnischen Internierten wurde auch jüdischen Zivilflüchtlingen jedes unbewilligte Verlassen des Lagers verboten. Was bei den Militärinternierten noch nachvollziehbar erscheint - völkerrechtliche Verpflichtung, den Internierten ein erneutes Eingreifen in die militärischen Kämpfe zu verunmöglichen -, erscheint bei zivilen Flüchtlingen nur noch als unmenschliches Konzept. Aus welchen Motiven aber war es genährt? Fremdenfeindlichkeit? Antisemitismus? Oder allenfalls dem Willen, die Kontrolle über die Schweizer Bevölkerung immer aufrechtzuerhalten? Wieso denn durften/mussten Internierte oder Zivilflüchtlinge nur bewacht (mit Gewehr, häufig mit aufgepflanztem Bajonett) ausserhalb des Lagers spazieren? Betty Friesländer, eine Jüdin aus Gailingen nahe der Schweizer Grenze, berichtet beispielsweise in einem Interview: «Jeden zweiten Tag konnten wir aus dem Lager heraus auf einen längeren Spaziergang. Wir Frauen und Kinder, immer zwei neben zwei in Kolonne, wurden dabei immer bewacht. Denken Sie: Links und rechts stand je ein Soldat mit Gewehr und aufgepflanztem Bajonett!» Betty Friesländer, deren Mann im berüchtigten französischen Lager Gurs starb, durfte auch nicht mit ihrem Kind im Lager leben. Zwar lebte das Kind bei Pflegeeltern in der Schweiz. Betty Friesländer war sogar untersagt, mit ihm Kontakt aufzunehmen, und weder das Kind noch ihre Mutter oder ihre Schwester durften sie in Büren besuchen.
Vage und unbeholfen
Nur einmal gibt Krause einen vagen Hinweis, dass eine «Mischung antiurbanen Ressentiments, von Patriotismus und eines impliziten Antisemitismus» bezeichnend sei «für die von Bern aus dirigierte Flüchtlingspolitik». Fremdenfeindlichkeit beziehungsweise Antisemitismus ist in den Quellen wiederholt zu finden, ohne von Krause thematisiert zu werden. Gelegentlich klingt er nur an, beispielsweise wenn der Militärgeistliche Müller Ostjuden als «finstere, bleiche, schmierige Gestalten» bezeichnet. Expliziter, wenn ein Offizier sich abschätzig über das «Polackendorf» äussert.
Das Buch ist im neu gegründeten Verlag hier + jetzt,Verlag für Kultur und Geschichte, Baden, Aargau, erschienen. Die jungen Verleger Andreas Steigmeier und Urs Bernet wollen «Sachbücher zu kulturellen und historischen Themen» herausgeben, die sich an ein breiteres Publikum richten. Das Buch über das «Concentrationslager» überzeugt durch die sorgfältige Gestaltung und die gute Qualität der reproduzierten Fotos und Dokumente. Wenig informativ, gelegentlich auch unbeholfen formuliert sind hingegen viele Fotolegenden. Im Einzelfall sind sie gar demaskierend: «Frau Schiess hatte aber auch noch ein weiteres Interesse» steht zu einer abgebildeten Bewilligung für permanenten Lagerzutritt. Welches, schreiben Stadelmann und Krause nicht. Aber Phantasien laufen ja frei, freier jedenfalls als Internierte oder Flüchtlinge in einem Schweizer Konzentrationslager.
Jürg Stadelmann, Selina Krause, «Concentrationslager» Büren an der Aare 1940-1946. Das grösste Flüchtlingslager der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, 1999, Fr. 58.-
Hans Stutz
Luzern heute 4. November 1999, Seite 9
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