Crans-Montana, Samstagnachmittag, 17. September 2022. Berggipfel tragen die lichten Schimmer des ersten Schnees vergangener Nacht. 40 Franken hätte der Eintritt gekostet, bezahlbar bei Anmeldung. Den Veranstaltungsort erfuhren die Angemeldeten am Vortag, gegen sechs Uhr abends. Sehen und hören wollen sie Renaud Camus, bekannt als erster Verbreiter der Vorstellung des «Grossen Austausches», wonach in Europa die Bevölkerung durch MigrantInnen (MuslimInnen und Menschen aus Afrika und Asien) verdrängt werde. Ebenfalls angekündigt der Genfer Anwalt, Marc Bonnant, achtzigjährig und bekannt für seine rhetorisch ausschweifenden Voten und Plädoyers, auch bei der Verteidigung des Walliser SVP-Nationalrat Jean-Luc Addor, inzwischen verurteilt wegen Rassendiskriminierung, nachdem er nach einem Mord in einer Moschee «Mehr davon» angemahnt hatte.
Die Herren verkehren in derselben politischen Grossfamilie: Wider die Moderne, wider Liberale und besonders heftig wider alle Linken, ob kulturell oder politisch tätig. Und die Männer begegneten sich bereits, auch wenn nun nicht alle vor Ort sind: Camus und Addor traten im Januar 2015 in Paris zusammen vor die Medien. Es sei eine «historische europäische Pressekonferenz» gewesen, jubelte der Blog «Les observateurs», betrieben in vorschreitender Altersradikalität vom ehemaligen Genfer Soziologie-Professor Uli Windisch. Camus kündigte damals die Lancierung einer französischen Pegida-Sektion an. In der Zwischenzeit hat er sich als Präsidentschaftskandidat versucht, ebenfalls erfolglos. Danach hatte er den Rechtsextremisten Eric Zemmour unterstützt. Hat dessen Misserfolg aber nicht verhindert.
Zur «Conférence» geladen hat der «Salon Gonzague de Reynold». De Reynold? Ein Freiburger Patrizier, verschieden 1970, vorher Literaturprofessor an der Universität Bern, katholisch und konservativ und Bewunderer von Benito Mussolini und des portugiesischen Diktators Salazar, dazu Freund und Berater des katholisch-konservativen Bundesrates Philipp Etter. Alle Herren vereint in der Ablehnung des liberalen bürgerlichen Staates und sozialistischer Gedanken und Organisationen.
Betrieben wird der ‘Salon’ von einem muskulösen Mann, meist in gediegenem Stoff gekleidet, bald dreissig, mit abgeschlossenem universitären Ökonomie-Studium. Schreibt er. Auf mehreren Social-Media-Kanälen setzt er sich bilderreich in Szene, auch an Kraftmaschinen im Fitness-Studio. Sein Pseudonym: «Haltérophilo». [Ein Wortspiel aus «Gewichtheben» (haltérophilie) und Philosophie/Philosoph]. Seinen bürgerlichen Namen versucht er zu verbergen. Doch Schlossbewohner Camus ist schriftlich schwatzhaft. Tag für Tag lässt er Neugierige – gegen zehn Euro monatlich - in seinem «Journal» online daran teilhaben, wie er geschlafen, was er gegessen und den ganzen Tag getrieben hat. Auch daran, dass er Anfang März 2022 einem «Xavier Meystre» einen Brief schrieb, dieser ihn Ende März besuchte und interviewte. Einmal nennt er ihn «Organisator». In der Tat verbreitet «Haltérophilo» auf einem seiner Social-Media-Kanäle ein Interview mit Camus, aufgenommen in dessen Landschloss im südwestfranzösischen Département Gers, nahe von Toulouse.
Anlass für Meystres Einladung ist Camus neues Buch «Depossession» (Enteignung). Der Franzose hat sein Hirngespinst weitergesponnen: Im «Grossen Austausch» seien Eliten daran, Bevölkerung und Zivilisation Europas durch Einwanderung auszutauschen. Behauptet er. Im «Kleinen Austausch» würden täglich Sitten, Kultur, Gewohnheiten und die Sprache sich verändern. (Als ob sie dies nicht immer täten.) Und nun sei der Mensch entwurzelt, da man ihm die Identität genommen habe. Die Enteignung des verwurzelten Menschen habe begonnen mit Friedrich Nietzsches Feststellung, Gott sei «tot», Gott und die Religion seien damit nicht mehr die höchsten Instanzen. Abgedroschener rechter Kulturpessimismus.
In der Einladung hatte Meystre geschrieben, der Vortrag solle belegen, dass die Aufklärung trüber sei als man gemeinhin denke. Und auch: Camus’ Buch sei «kontra-revolutionär». Gegen welche Revolution? Die Russische? Die Französische? Oder die Digitale? Oder gar die Erfindung des Buchdrucks? Eine Exkursion nach «Retrotopia» ist es allemal: Ein politischer Zufluchtsort, ersehnt von Menschen, die ihre idealisierte Zukunft «aus der verlorenen/geraubten, verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit» (Zygmunt Bauman) erfinden. Von diesen Retrotopist:innen gibt es im Wallis viele, darunter ein abgewählter Staatsrat (SVP). Ein Müsterli: In einem Interview mit dem russischen, jedoch französischsprachigen Sender „Sputnik“, behauptet EU-Gegner Freysinger, was man Putin vorwerfe, schaffe man in Europa selber. Im Westen sei eine „Art von sanfter UdSSR“ am Entstehen: „Ohne Gulag“, aber „identisch im Geist“. Wer „gewisse Sachen“ sage, werde von den Medien „zerstört“. Andernorts soll es besser sein. Während im Westen „ein milder Totalitarismus“ entstehe, sei Russland ein „diskretes Reich der Freiheit“ und dies weil das Land wieder seine „Spiritualität“ entdeckt habe. Denn, so Freysinger, wer sich nicht auf seine Werte zurückbesinne, werde untergehen.
Retrotopist:innen, darunter mindestens eine Frau, versammeln sich an diesem Samstag hinter geschlossenen Türen. Rund vierzig Personen seien anwesend gewesen, berichtet Camus seinem Tagebuch. Einige nennt er beim Namen, darunter Oscar Freysinger, im vergangenen Jahrtausend Mitbegründer der Unterwalliser SVP, inzwischen zurückgetreten als Nationalrat, abgewählt als SVP-Staatsrat, nun lebenslänglich Flaneur bei stattlicher, staatlich bezahlter Pension. Camus und Freysinger rockten bereits zusammen, im Dezember 2010 in Paris, bei einer Versammlung wider die «Islamisierung» Europas, organisiert von der rechtsextremen Bloc Identitaire und von Riposte Laïque, einem radikal-islamophoben Blog. Freysinger erntete Ovationen für das Minarettverbot, als ob der Strippenzieher gewesen wäre. Camus beschwor den «Grossen Austausch», die «Grossen Entkulturalisierung» (la grande déculturation), die «fortschreitende Islamisierung», und redete von Immigrant*innen, die eine Armee seien, «der bewaffnete Arm der Eroberung».
Zurück nach Crans-Montana. Mit dem Veranstaltungslokal ist Schlossburgbewohner Camus begrenzt zufrieden. «Im dritten Stock unter Strassenniveau», habe er sprechen müssen, klagt er seinem Tagebuch, pünktlich begonnen habe der Anlass auch nicht. [Ist die Schweiz nicht mehr so, wie Bewunderer starrer Ordnung es gerne hätten? Oder war sie es nie?]
Auch in Crans-Montana dominiert die kapitalistische Gegenwart: Lautsprecher in den Strassen, scheppernde Musik und Interviews, geführt von geschwätzigen Moderatoren mit Sponsoren und Mountain-Biker*innen. Ein internationaler Szene-Event von Downhill-Bikern, der für ein Wochenende die Betten und die nächtlich geöffneten Bars füllen soll. DieTourist*innen-Industrie hat die Berge entzaubert, wie grosse Industriebetriebe das Rhonetal vergiftet haben.
Diesmal traf sich die rechte Truppe abgeschottet, die politische Botschaft soll in die Gesellschaft wirken. Sechs Wochen später stellen «Haltérophilo» wie Uli Windischs Blog «Les Oberservateurs» eine Aufzeichnung des Anlasses ins Netz. Die «Conférence» ist ein geschwätziger Dialog von Camus und Bonnant, zaghaft moderiert vom Organisator Meystre. Die in die Jahre gekommenen Bildungsbourgeois sind sich einig in der Ablehnung der «Gleichheit», das heisst des Grundsatzes, dass alle Menschen frei und gleich an Rechten seien. Bonnant hält sich für einen Mann der Rechten, resolut und extrem rechts. (Je suis de droite, résolument de droite, extrêment de droite). Er beklagt: Die Christen des Abendlandes hätten «die Menschenrechte Gottes Wort» vorgezogen. Er behauptet: Die Hierarchie sei «der Weg des Göttlichen». Diese blumige Aussage gefällt Camus und der gibt einen drauf: Die Gleichheit zerstöre alles, «die Stadt, die Familie, die Kultur». Und auch die Staatsbürgerschaft: «Wenn es keine Ungleichheit mehr gibt zwischen Bürger und Nicht-Bürger, dann gibt keine Nation, kein Staat, kein Vaterland mehr». Unterschiede begründen Privilegien. Und auch Unmenschlichkeit: Im Darwinschen Sinne müsse man, ergänzt Bonnant, nicht jedem «eine Chance geben»: Entweder man habe die Mittel sie zu ergreifen oder bleibe am Strassenrand liegen. Ebenso beiläufig wie bildungsbewusst vorgetragener Sozialdarwinismus.
Bonnant dominiert das Gespräch. Über ‘die Juden’ sagt er: Er verstehe, dass sie «ein Volk» seien, «das durch seine Überlegenheit demütigt». («Je comprends que ce soit un peuple qui humilie par sa superiorité.») Und Camus, rechtsgültig verurteilt wegen Anstachelung zum Rassenhass, behauptet wortreich, weder geschrieben, gesagt oder gedacht zu haben, dass «alle Muslime voyou» (Gauner) seien. Er habe gesagt, dass die «voyou unter den Muslimen der bewaffnete Arm der Eroberung» seien. Camus weiter: Was in Europa, besonders in Frankreich gesehen, sei «mehr oder mehr eine Kolonialisierung».
Und Camus setzt noch einen drauf: «Die Proklamation des Dogmas der Nichtexistenz von Rassen» sei die «unabdingbare und notwendige Voraussetzung» gewesen für das «Verbrechen Antirassismus», das heisst für den «Völkermord durch Austausch» und «dem Verschwinden der Rassen» und «der Verschmelzung der Menschheit».
«Diskriminierung» sei zum «Verbrechen schlechthin» geworden, behauptet Camus und spinnt seine Austausch-Geschichte weiter. Man müsse nun von einer «davoscraty» sprechen. «Davos» sei zwar nicht die «Weltregierung», nicht politisch zwar, es gehe um «du pure gestion du parc humaine», auch «management du parc humaine». Dahinter stecke die Absicht der Industrialisierung des Menschen. Der Mensch nicht nur als Konsument, sondern als ein Produkt, das weltweit ausgetauscht werden könne.
Nach erledigtem Auftritt gehen die Herrschaften dinieren, ins noble Restaurant des Golfclubs: Camus, Meystre und zwei Männern von Civitas Suisse. Civitas eine katholische rechtsextreme Partei, aktiv in fünf Ländern, Belgien, Deutschland, Frankreich, Spanien und seit Mitte 2021 auch in der Schweiz. Gegründet vom ehemaligen Anhänger der Pius-Brüder Alain Escada, einem belgischen Rechtsextremisten. Ihn hat anno 2015 Staatsrat Freysinger frohgemut zum Video-Interview empfangen. Das Video ist nicht mehr abrufbar.
Bis anhin (Stand Spätherbst 2022) ist ein einziger Civitas-Auftritt bekannt. Im Herbst 2021 riefen die katholischen Fundamentalist:innen in Genf zur Kundgebung wider den Film «Grâce à Dieu», der den Kampf um Gerechtigkeit von Opfern sexuellem Missbrauch durch katholische Priester nachgeht. Gegen diese Aufklärung demonstrierten rund 30 Leute. Marc Bretton, Berichterstatter der Tribune de Genève fasste Alain Späths Rede zusammen: Seit Luther sei alles schiefgelaufen, der habe Descartes ermöglicht, der – «philosophisch gesehen» - Hegel, dann Marx und schließlich das Zweite Vatikanische Konzil hervorgebracht habe. Ein wilder ideengeschichtlicher Ritt also. Und Civitas habe vorgeschlagen, "den Katholizismus als offizielle Religion der Schweiz wieder einzuführen". Unverblümter spricht Späth in einem Interview, das sein Gesinnungskamerad Meystre auf seinem YouTube-Kanal verbreitet: «Man kann nicht gleichzeitig Katholik und Demokrat sein». Sie seien «die Erben des wahrhaftigen politischen Katholizismus. Antiliberal.» Die Insel Retrotopia ist vielfältig bewohnt. Auch von den Leuten der Pius-Bruderschaft, deren Hauptsitz im Wallis liegt, Ecône. Gegründet vom Pariser Erzbischof Marcel Lefévre, wider die Modernisierung der Katholischen Kirche und der Liturgie durch das Zweite Vatikanische Konzil.
Anderntags besuchen Camus, Meystre und Freysinger einen katholischen Sehnsuchtsort, eine Einsiedelei ob Sion, gewidmet der «Lieben Frau von Longeborgne». «Personen mit Kinderwunsch» sollen hier seit Jahrhunderten «um Erhörung ihrer Gebete» gebeten haben. Politisch aktuell ist der rechte Kampf wider die Selbstbestimmung der Frauen. Der abgewählte SVP-ler engagiert sich in den beiden Initiativkomitees, die Frauen den Zugang zum Schwangerschaftsabbruch erschweren wollen. Bewundernd schreibt Camus abends in sein Tagebuch: Einsiedler Pater François habe Freysinger «wie einen König empfangen.» Verwundert fügt Camus noch hinzu: «Oscar Freysinger glaubt fest an die blasenstärkende Wirkung von Weidenröschentee». Und wenn's nichts nützt, so schadet er nicht, der Tee.