Montag vergangener Woche. Gemeinderat Zürich. Alle Fraktionen (SP, FDP, Grüne, Grünliberale, Die Mitte, EVP und Alternative Liste AL) verurteilen den rechtsextremen Angriff auf die jährliche «Dragqueen-Vorlesestunde» für Kinder von drei bis zehn Jahren. Sie halten fest, dass Rechtsextreme und Neonazis sich «sicher und salonfähig» fühlen würden, «um mit Namen und Gesicht an die Öffentlichkeit zu treten». Die SVP wirft den politischen Gegnern «Heuchelei» vor und ihr Sprecher und Fraktionschef Samuel Balsiger will in einem Postulat, dass die Stadtregierung aktiv wird, damit die angegriffene Veranstaltung «sofort abgesetzt werden» könne. Nicht ohne einen diskriminierenden Seitenhieb auf «schlecht integrierte und nicht assimilierte Migranten aus fremdländischen Kulturen». Zur Freude eines rechtsextremen Beteiligten: «Aktivismus wirkt!», schreibt er postwendend auf seinem Social Media-Kanal. Die SVP-Intervention hat Tradition. Einerseits sammelt die SVP – wie einst die Nationale Aktion NA / später Schweizer Demokraten – seit den 1980er-Jahren «braune Flecken» auf ihrer weissen Weste. Andererseits versucht sie Politiker und antifaschistische Mahner zu diskreditieren, die Wachsamkeit gegen rechtsextreme Ideen und Taten einfordern.
Familie statt Gender
Anlass der Debatte: Junge Männer der «Jungen Tat» hatten rund zehn Tage vorher eine «Drag Story Time» angegriffen, in der als Frauen verkleidete und heftig geschminkte Männer Kindern Geschichten erzählen. Drei Wochen zuvor hatte die «Weltwoche» die Veranstalter als «aktivistische Ideologen» bezeichnet, die vor nichts zurückschrecken würden, «auch nicht vor Kindern». Auch Köppels Kampagnenblatt hatte schon die Einstellung öffentlicher Unterstützung angemahnt.
Bei ihrer Aktion zeigten die rechtsextremen Demonstranten ein Transparent «Familie statt Gender-Ideologie». In einem Flugblatt forderten sie «eine starke und gesunde Leitkultur, die Vermittlung traditioneller Werte, den Stopp der Finanzierung perverser und dekadenter Ideologien». Auf ihrer Homepage erklären sie, sie hätten klargemacht, «dass die traditionelle Familie eine unverhandelbare Konstante» sei und bleibe. Worte und Forderungen wie sie ähnlich die SVP und die Alternative für Deutschland AfD vertreten, ebenso die Bewegung der rechtsextremen Identitären und des Rassemblement National von Marine Le Pen, wie auch Viktor Orbàns Fidesz, Giorgia Melonis Fratelli d’Italia. Auch Waldimir Putin hat ähnliche Vorstellungen, auf welchen Werten eine Gesellschaft aufgebaut werden soll.
Diverse Realitäten
Nur: Die gesellschaftliche Realität ist in Europa seit Jahrzehnten vielfältiger. Nicht nur zum Missfallen von Rechtsextremisten, sondern all jener, die sich gegen die Werte der Aufklärung und einzelner Grundsätze der Menschenrechte stellen, insbesondere wider den zentralen Grundwert, dass alle Menschen zwar verschieden seien, aber die gleichen Rechte hätten. Diese vielen Bewegungen und Parteien, wie auch ihre Ideengeber, sind Teil einer politischen Grossfamilie, die gegen die moderne Welt revoltiert. Insgesamt sind sie zwar vielfältig zerstritten, manchmal bis zur Unversöhnlichkeit. Weitgehend einig sind sie sich in der Ablehnung einer liberalen Gesellschaft und des liberalen Staates, wie auch des sozialen Ausgleichs und der internationalen Bindungen. (hier korrigiert "der nationalistischen Abschottung" ersetzt durch "internaionale Bindungen).
Die Übergänge sind fliessend. Oder wie es der Historiker Damir Skenderovic dieser Tage in einem NZZ-Interview ausdrückte: «Gewisse Ideen, die den Rechtsextremen wichtig seien, werden auch durch etablierte Parteien und Medien diskutiert.» Sie seien «in der Mitte der Gesellschaft angekommen». Skenderovic, der an der Universität Fribourg lehrt, erwähnt als Beispiel, dass sich in den letzten Jahren «Wortmeldungen und Kampagnen gegen die Änderung der Geschlechtsidentität und gegen Gender-Studies» vermehrt hätten. In der Tat: In den vergangenen Monaten erschienen Äusserungen gegen die «Woke»-Kultur und Gendertheorien, vorwiegend in den Medien, allen voran die «Weltwoche», aber auch im NZZ-Feuilleton oder in der «SonntagsZeitung». Auch Politiker wollten nicht hintenanstehen. Noch-SVP-Bundesrat Ueli Maurer meinte, mit einer Bemerkung gegen Trans-Menschen «provozieren» zu können. Und der SVP-Nachfolge-Kandidat Hans-Ueli Vogt kündigte an, den «Transgender-Wahn» zu bekämpfen.
Zur Erinnerung. In diesen Tagen jährte sich zum hundertsten Mal die Machtübergabe an Benito Mussolini, häufig als «Marsch auf Rom» verherrlicht. Vor rund dreissig Jahren schrieb der Historiker Eric Hobsbawn in seinem Werk «Das Zeitalter der Extreme»: Der italienische Faschismus habe in den 1920er- und selbst noch in den 1930er-Jahren «eine durchaus gute Presse» gehabt, «ausser natürlich vom liberalen und linken Spektrum». Geschichte wiederholt sich nicht, aber Geschichtskenntnisse können dabei helfen, erkenntnisfördernde Fragen zu stellen.