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«Aber doch nicht der Stutz»

Ein Journalist erhält vom Luzerner Stadtarchiv den Auftrag, ein Buch über Schweizer Fröntler und Deutsche Nazis in Luzern zu schreiben. Damit beginnt ein sechsjähriger Hindernislauf durch Archive und Behörden bis hin zum Stadtpräsidenten. Ein Rückblick im Zorn.

Zum Buch Frontisten und Nationalsozialisten in Luzern, 1933 – 1945

Wenn einer Zeitgeschichte schreibt, dann kann er später viele Geschichten erzählen. Zum Beispiel folgende: Gegen Ende des Sommers 1989, eben begann das EMD unter Kaspar Villiger, Sohn eines luzernischen Stumpenfabrikanten an die nationalistischen Gefühle der Aktivdienstgeneration durch geschichtsklitternde Veranstaltungen zu appellieren, um damit die Volksinitiative für die Abschaffung der Schweizer Armee zu bekämpfen, da beauftragt der Luzerner Stadtarchivar Edgar Rüesch mich, ein «Büchlein» über die "Fröntler und Nazis in Luzern, 1933-1945" zu verfassen, zwecks Veröffentlichung in der stadteigenen Reihe «Luzern im Wandel der Zeiten/Neue Folge». Ich hatte einige Jahre vorher in der Luzerner Zeitschrift «Die Region» eine mehrteilige Serie über Luzerner Fröntler und Nazis publiziert und war damals erstmals mit den staatlichen VerwalterInnen der Geschichtsschreibung in Kontakt gekommen. Ich schrieb damals, die meisten Archive, insbesondere das Luzerner Staatsarchiv und das Bundesarchiv, seien mir verschlossen geblieben, nur das Stadtarchiv Luzern sei meinen Nachforschungen zugeneigt gewesen. Daraufhin tadelte mich Stadtarchivar Edgar Ruesch freundlich: dieses Lob könne seine Archivarbeit erschweren, da die aktenablieferenden Stellen ihn eventuell nicht mehr als vertrauenswürdig ansehen, folglich die Akten nicht ans Archiv abliefern würden.

Rüeschs Bemerkung zeigt ein grundsätzliches Problem: Im Konfliktfall zwischen Sammeln und Einsichtsgewährung setzen viele Archive aufs Sammeln und stellen vorsorglich die Interessen von Forschung und Öffentlichkeit hintenan. Ein Entscheidung, die den ArchivarInnen nicht zuletzt durch die (auch von vielen Linken gefordertern) Datenschutzreglementierungen erleichtert wird.

Quellenverstopfung
Ruesch erwähnte gleich ein erstes Beispiel von Quellenverdünnung: Jakob Zimmerli, der ehemalige Stadtpräsident und Hotelier und Mitbegründer der Internationalen Luzerner Musikfestwochen, hatte seine persönlichen Akten vernichten lassen. Quellenverdünnung sinnlich erfahren habe ich im Nachlass des katholisch-konservativen Luzerner Regierungsrates (43 Jahre), Nationalrates (32 Jahre), des Ränkeschmiedes und "Königsmacher" Heinrich Walther, der in den Jahren nach 1945 kompromittierende Briefe zerriss und damit für den Papierkorb vorbereitete. Aus unbekannten Gründen sind einige Briefe bzw. Papierschnitzel erhalten geblieben und später mit Klebstreifen wieder zusammengefügt worden. In einem dieser rekonstruierten Briefe (an den Schaffhauser Fröntler und Bauernsekretär Hans Zopfi) kann man lesen, dass Walther sich im Sommer 1941 sehr positiv zur frontistischen Forderung nach einer schweizerischen Beteiligung am nazideutschen Russlandfeldzug stellte. Die Bibliothekarin Brigitta Baltensweiler, Verfasserin einer Bibliographie des Walterschen Nachlasses, vermerkt denn auch, dass nach Aussagen von Walthers Enkelin dieser «die brisanten und aussagekräftigen Briefe vernichtet hat.»

Quellenverdünnung auch bei Ludwig F. Meyer, 1931 bis 1942 freisinniger Luzerner Nationalrat und Freund von General Guisan («mon cher ami et géneral») und noch während des Zweiten Weltkrieges Verwaltungsrat einer deutschen Krupp-Gesellschaft. Nationalrat Meyer, damals einer der führenden Politiker des Schweizer Freisinns, musste 1941 wegen dubiosen Schiebergeschichten zurückgetreten. Nach seinem Tod (1959) ging sein Nachlass ans Bundesarchiv - selbstverständlich ohne die aussagekräftigen Briefe und Dokumente. Zum Beispiel fehlen Hinweise auf den sozial selektiven Einsatz für von Nazis bedrohte Deutscher, meist Juden. (Immerhin: Er wirkte als Fluchthelfer.) «Dabei handelt es sich aber immer um wohlhabende Leute, welche bereit sind, erhebliche Steuern zu bezahlen, keine Erwerbstätigkeit auszuüben und lediglich in Luzern ihr Geld in Ruhe und ungeschoren auszugeben.» So umschrieb Meyer seine Tätigkeit im April 1937 in einem Brief an den Luzerner Regierungsrat.

Familiengeschichten
Noch unerfreulicher als Quellenverdünnung ist für zeitgeschichtliche HistorikerInnen die Quellenkontrolle durch Nachkommen. Zugang zu den Akten erhält, wer Gewähr für eine unkritische Geschichtsschreibung bietet. Aram Mattioli beispielsweise, Verfasser einer vielfach gerühmten Dissertation über Gonzague de Reynold, dem Freiburger Aristokratensohn und Bewunderer von Diktatoren wie Salazar und Mussolini, wollte auch Einblick in den von den Nachkommen verwalteten Nachlass des katholisch-konservativen Bundesrates Philippe Etter erhalten. Dies nachdem ein Lizentiand der Universität Fribourg Zutritt erhalten hatte. Mattioli wurde zuerst monatelang hingehalten, "bis man ihn wissen liess" dass man der neueren Geschichtsschreibung nicht ganz traue, da sich aus einzelnen Briefen und Veröffentlichungen leicht ein negatives Bild erstellen liesse, das jedoch weder der Gesamtpersönlichkeit noch seinem Lebenswerk gerecht würde. Allerdings sei man zu einem klärenden Gespräch über diese Problematik und danach "je nachdem auch bereit", Einsicht zu gewähren. (Mattioli im Vorwort seiner Dissertation.) Zur Erhaltung seines beruflichen Rufes musste der Basler Historiker auf eine Einsichtsnahme verzichten. Unter privater Kontrolle ist auch der Nachlass eines anderen katholisch-konservativen Bundesrates: Ludwig von Moos, Sarnen, der zwischen 1936 und 1939 als alleiniger Redaktor am "Obwaldner Volksfreund" verantwortlich für die Veröffentlichung rüder antisemitischer Äusserungen war. Bei der Erwähnung der unerfreulichen Vergangenheit von Bundesrat von Moos pflegt die Familie zu intervenieren, letzmals im vergangenen Sommer nach einem "10vor10"-Beitrag in dem von Moos allerdings versehentlich die Autorenschaft der antisemitischen Passagen zugeschrieben wurde. Der Innerschweizer SRG-Fernsehkorrepondent Walter Bucher plante daraufhin einen vertiefenden Beitrag über den Fall. Doch eine Familienkonferenz der von Moos beschloss, sich nicht mehr öffentlich zur unerquicklichen Vergangenheit zu äussern. Die Folge: Der Fernsehbeitrag kam nicht zustande.

«Aber doch nicht der Stutz»
Durch die jahrzehntelange CVP-Dominanz in den kantonalen Verwaltungen, insbesondere im ideologisch sensiblen Erziehungs- und Forschungsbereich, ist die Innerschweiz ein Holzboden für zeitgeschichtliche Arbeiten. Zum Beweis genügt ein Blick in die 1994 erschienene Broschüre "Geschichte in der Zentralschweiz. Forschung und Unterricht": Nur ein minimaler Teil der historischen Veröffentlichungen beschäftigt sich mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Dazu passt auch die Geschichte von Josef Schmid, der bis 1971 Luzerner Staatsarchivar war, über den sich Innerschweizer HistorikerInnen bis heute ärgern. Schmid liess (wahrscheinlich in den fünfziger Jahren) meterweise Akten des 19. Jahrhunderts und des frühen 20. Jahrhunderts wegwerfen. Der Archivar betrachtete zeitgeschichtliche Akten als "modernen Plunder", so Anton Gössi, heutiger Vizedirektor des Luzerner Staatsarchivs.

Doch zurück zum Herbst 1989. Noch bevor ich mit den Nachforschungen beginne, orientiert Auftraggeber Ruesch den kantonalen Verwalter der Geschichtschreibung, Fritz Glauser (CVP). "Aber doch nicht der Stutz", schlüpft es aus Glauser. Da Luzern ein kleines Städtchen ist, erfahre ich bald von einem Ohrenzeugen von der Verwünschung. Tage später spreche ich bei Glauser vor. Das Staatsarchiv Luzern habe wenige Akten zu den 30-er und 40-er Jahre, wiegelt Glauser ab, auch seien die meisten noch nicht erschlossen. Im Gespräch erwähnt der Herr Staatsarchivar, ein Spezialist über die Geschichte des Gotthardtransits der Jahre 1493 bis 1660, über die Geschichte des 20. Jahrhunderts wenig fachkundig zu sein, doch als ich den Begriff "Austrofaschismus" verwende, fährt der luzernische Geschichtsverwalter mir übers Maul, Austrofaschismus sei doch ein "linker Begriff". Zuerst müsse ich beweisen, dass er des Vertrauens würdig sei, meint der Staatsarchivar und ich weiss: habe die Prüfung nicht bestanden. Tage später lässt Glauser mir eine kurze Liste von potentiell sachdienlichen Dossiers zukommen. Ein Gesuch an den Luzerner Regierungsrat um umfassende Einsicht in die Bestände des Staatsarchivs befürwortet er, in der Praxis erschwert er mir in den folgenden Jahren den Zugang zu den Akten.

Wie man überhaupt beim Luzerner Staatsarchiv seine bizarren Vorstellungen über den öffentlichen Nutzen der Geschichtsschreibung pflegt. Vizedirektor Anton Gössi veröffentlichte vor vier Jahren in der vom Staatsarchiv betreuten Reihe einen Quellenband, betitelt "Die Protokolle der Bischöflichen Visitationen des 18. Jahrhunderts im Kanton Luzern". Dem Vernahmen nach bringen diese Protokolle sozialgeschichtliche Einblicke in das Leben ländlicher Untertanen und Erkenntnisse über die ideologische Verwaltung der Bauern und Handwerker luzernischer Untertantengebiete, garniert mit saftigen Geschichten über katholische Heuchelei bei der Vertuschung der Herkunft lebendgeborener Produkte pfarrherrlicher Lust. Doch Gössi liess die Quellentexte ausschliesslich in Latein, ohne deutsche Übersetzung drucken. Geschichte als Veranstaltung für akademisch Eingeweihte? Gössi begründet den Verzicht auf Übersetzungen mit den zusätzlichen "Kosten". Und bei einem Historiker müsse man "rudimentäre Lateinkenntnisse" voraussetzen können. Interessierte Laien sind nicht vorgesehen.

Immerhin bin ich nicht auf das Glausersche Luzerner Staatsarchiv angewiesen. Im Bundesarchiv lagern viele Bundespolizei-Dossiers über Fröntler und Nazis. Einsichtsnahme ist möglich nach einem Gesuch an das Bundesarchiv, von wo das Gesuch an den Bundespolizei weiterleitet wird. Ein Bundespolizist entscheidet über die Einsichtsnahme in die einst bundespolizeilich erschnüffelten Dossiers. Bis zur Fichenaffäre führte jedes Gesuch um Einsichtsnahme in Bundespolizei-Dossiers zu einem Ficheneintrag. Die Entscheide des zuständigen Bundespolizisten waren öfter nicht nachvollziehbar. So, als ich bemerkte, dass ein Dossier über den "Eidgenössischen Rütlibund" existiert, dies trotz anderslautender Auskunft. Gelegentlich schummelt die Bundespolizei. Aram Mattioli berichtet im Vorwort seiner Dissertation, dass er das Dossier von Gonzaque de Reynold einsehen wollte und das Bundesarchiv ihm den Bescheid gab, das Dossier de Reynolds sei vernichtet worden, jedoch anhand der vorhandenen Fiche rekonstruierbar. Es habe nur zwei (de-Reynold-kritische) Zeitungsartikel aus den Jahren 1948 und 1949 enthalten. Diese Auskunft ist falsch. Im Dossier des Luzerner Frontenführers Hans Bossard finde ich einen Verweis, wonach de Reynold im Sommer 1941 (und nicht erst 1948) das Bupo-Dossier C.2.5711 besass, als er unter den wachsamen Augen der Bundespolizei den nationalsozialistischen Schriftsteller Hans Schaffner und dessen rechtsextremen Luzerner Kunsthändler Hans Bossard empfing, um über eine Schweizer Beteilung am Nazi-Feldzug gegen die Sowjet-Union zu debattieren.

Heikle Fälle
Trotz den vielfachen Hindernissen liefere ich im Herbst 1990 ein erstes Manuskript ab. Stadtarchivar Rüesch ist inzwischen über seinen eigenen Mut erschrocken. Vielleicht müsse man, erklärt er, bei einzelnen bekannten Luzernern wohl den Namen durch Initialen ersetzen. Vorauseilende Rücksichtsnahme zum Beispiel bei Nationalrat Karl Wick, einst katholisch-konservativer National- und Grossrat und Vaterland-Redaktor und ideologischer Vordenker der Katholisch-Konservativen. Wick hat sich gelegentlich antisemitisch geäussert, auch viel Verständnis gezeigt für die nationalsozialistische Museuemssäuberungen von "Entarteter Kunst", weiter den nazideutschen Angriff auf die Sowjet-Union begrüsst und noch im Winter 1942 die Politik Mussolinis gelobt. Nach 1945 setzte sich Wick für den von der Ausweisung aus der Schweiz bedrohten rechtsextremen Waffenhändler Waldemar Pabst ein, der anno 1919 beim Mord an Rosa Luxemburg mitbeteiligt gewesen war. "Veröffentlichung heikel", meint Stadtarchivar Rüesch.

Noch heikler (da zwei Söhne heute zu den Eminenzen der Luzerner CVP gehören), ist es beim einstigen katholisch-konservativen Nationalrat und späteren Versicherungsrichter Hans Korner. Korner vertrat nach dem Krieg einige bessersituierte deutsche Nazis in Ausweisungsverfahren und verteidigte den Hotelierssohn Franz Riedweg, den höchsten (Korrektur: einer der höchsten) Schweizer in der Waffen-SS. Wieweit der einstige Jungkonservative Korner mit der Verteidigung des SS-Obersturmbannführers Riedweg auch seine eigene politische Vergangenheit mitverteidigt hat, ist unklar. Mit seiner 1936 erschienenen Dissertation über die Grenzen der Meinungsäusserungsfreiheit hatte Korner die juristische Rechtfertigung für das Kommunisten-Verbot geliefert und selbst das Verbot der Sozialdemokraten erwogen. Riedweg seinerseits hatte, was Korner theoretisch erwogen hatten, in der Praxis betrieben und bis zur Auswanderung nach Deutschland (Sommer 1938) für das Verbot kommunistischer Organisationen agiert und war in einigen Innerschweizer Kantonen auch erfolgreich gewesen. Nachweisbar ist: Die Verurteilung seines Mandanten hat Korner empört. Er verunglimpfte das Schweizerische Bundesgericht, das Riedweg zu 16 Jahren Zuchthaus verurteilt hatte, in einem persönlichen Brief als "sprichwörtlichen Volksgerichtshof".

Diese Geschichten passen nicht ins geschönte Bild einer demoratie- und menschenrechtsfreundlichen Schweiz, welches auch die Luzerner Honorationen bei passenden Gelegenheiten zu zeichnen belieben. Man müsse vorläufig Rücksicht nehmen, erklärt Stadtarchivar Rüesch im Herbst 1990. Er will, wie er andeutet, die Produktion des Manuskriptes hinauszögern, da Urs Korner, Sohn des Riedweg-Verteidigers, bald zum Präsidenten des Luzerner Stadtparlamentes gewählt werde. Monatelang geschieht nichts. Im Frühling 1991, als die patriotischen Jubelreden zur 700-Jahr-Feier im Dutzend gehalten werden, schreibe ich dem Stadtarchivar einen Brief und erhalte keine Antwort. Schreibe einen zweiten Brief, dieses Mal mit Kopie an den Stadtpräsidenten Franz Kurzmeyer, politisch verantwortlich für das Stadtarchiv. Im August 1991 antwortet Kurzmeyer, "dass Wahrheit Wahrheit bleiben muss und eine Zensur, die sich nicht an rechtlichen Kriterien orientiert, nicht erfolgen darf". Dann geschieht wieder nichts, ausser dass ich gelegentlich heftigst innerlich fluchte. Was im Stadthaus niemand kümmert. Stadtarchivar Ruesch hat inzwischen - wie Kurzmeyer später bestätigt - das Kurzmeyersche Einverständnis für die vorauseilende Rücksichtsnahme.

Zwei Jahre lagert das Manuskript, Stadtarchivar Edgar Ruesch verabschiedet sich in den Ruhestand. Im Herbst 1993 erhalte ich von seiner Nachfolgerin Beatrix Lang grünes Licht für die Weiterarbeit und die Berücksichtigung von unterdessen erschienener Literatur. Einen Vorteil hat die Verzögerung: Die Quellenlage im Bundesarchiv hat sich verbessert. Das Bundesgericht verordnete im Dezember 1992 eine Erleichterung der Akteneinsicht. Alle meine Gesuche um Akteneinsicht in Bundespolizei-Dossiers werden nun (mindestens teilweise) positiv beantwortet.

Im kantonalluzernischen Staatsarchiv hingegen betreibt Staatsarchivar Glauser weiterhin Quellenverstopfung. Nachdem ich aufgrund eines Verweises bemerkt hatte, dass weitere einschlägige Dossiers vorhanden sein müssen, will Glauser mir das sachdienliche Findmittel, ein mehrhundertseitiges Verzeichnis, nicht aushändigen. Er entschliesst sich dann, mir das Verzeichnis vorzulesen. Ein absurder Anblick: Ein Chefbeamter liest einem Journalisten ein Buch vor. Überliest er vielleicht einige Abschnitte? Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser: Später spreche ich im Staatsarchiv nochmals vor, um weitere Fundmittel einzusehen. Zuerst lässt sich Glauser verleugnen, dann will er keine Zeit mehr haben (dringende Besprechung), hat aber dann das Pech hat, mir über den Weg zu laufen, und lässt vernehmlich ein Flüchlein fahren. Nach einiger Diskussion erhalte ich endlich Zugang zu den Fundmitteln. So erfahre ich unter anderem, das ein langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter des Staatsarchivs Luzern in seinen Studentenjahren Mitglied der Nationalen Front gewesen war.
Weiterhin der Glauserschen Willkür ausgesetzt bin ich bei den Personendossiers, die in keinem Verzeichnis aufgeführt sind. Zuerst verschweigt mir Glauser die Dossiers, dann erklärt er, sie seien noch nicht erschlossen, ergo nicht zugänglich. Schliesslich bringt mir Glauser ein einziges Dossier - eine magere Beute. Auffallend ist beispielsweise, dass über Franz Riedweg kein Dossier vorhanden ist, obwohl im Bundesarchiv mehrere Riedweg betreffende Briefwechsel mit kantonalluzernischen Stellen teilweise erhalten sind.

Präsident Kurzmeyer greift ein
Mittlerweile behindert auch die Auftraggeberin, das Stadtarchiv Luzern, meine Arbeit. Rüesch hatte mir einst empfohlen, auch über die Entstehung der Internationalen Musikfestwochen zu schreiben, da diese von heutigen Promotoren wahrheitswidrig als antifaschistische Gründung verkauft werden. Als ich im Winter 1993 ein IMF-Dossier nochmals konsultieren will, ist es - aus dem Katolog, aus dem Sinn - aus der Registratur verschwunden. Ich erhalte es erst nach eindringlicher Nachfrage. Beim erneuten Studium fällt mir auf, dass noch mindestens ein weiteres Dossier vorhanden sein muss, das über das IMF-Engagement des Zürcher Kriegsgewinnlers Bührle Auskunft gibt. Diese IMF-Akten seien Personalakten und folglich gesperrt, erklärt Stadtarchivarin Lang. Eine offensichtlich unhaltbare Behauptung. Im April 1996, knapp zwei Jahre nach Manuskriptablieferung, erhalte ich nach erneutem Anlauf plötzlich und kommentarlos Einsicht. Die Akten beweisen, wie tief Luzerner IMF-Verantwortliche vor Bührle buckelten, um Gelder für ihren Renommieranlass zu erhalten. Dass es auch anders ging, bewies das Zürcher Schauspielhaus: Es wies Bührlesche Unterstützung zurück, da ein antifaschistisches Theater nicht vom Reichtum des Nazi-Kanonenlieferanten profitieren dürfe.

Im Frühling 1994 liefere ich eine überarbeitete Fassung ab. Zeitgeschichte ist im Luzerner Stadthaus inzwischen nicht willkommener geworden. Dies erfuhr auch der Luzerner Historiker Beat Mugglin, der (ebenfalls im Auftrag des Stadtarchivs) eine Arbeit über "Die Bodenpolitik der Stadt Luzern" verfasst hat. Stadtpräsident Franz Kurzmeyer befiehlt, den im Buch erwähnten Privaten bzw. ihren Nachkommen - GrundbesitzerInnen, LiegenschaftskäuferInnen, SpekulantInnen - seien die sie betreffenden Textstellen vorzulegen. Die Kurzmeyersche Anordnung eines Vernehmlassungsverfahrens in Zeitgeschichte hat die absehbaren Folgen. Dem prozessfreudigen Grossgrundbesitzer Beat von Schumacher, missfällt die Darstellung seines erfolgreichen Kampfes gegen einen durchgehenden Fussweg am See. Von Schumacher klagt und droht mit dem Weg bis ans Bundesgericht: einen langen Weg, bei dem die bereits gedruckten und gebundenen Bücher im Stadtarchiv still verstauben und verschimmeln können. In der Folge muss von der Stadt nach einem Vergleich bei allen gedruckten Büchern ein Blatt herausgeschnitten und ersetzt werden. Folgekosten der Kurzmeyerschen Vernehmlassung in Sachen Geschichtsschreibung: 6400 Franken. Macht 6. 40 Franken pro Exemplar. Dafür verzichtet das Stadtarchiv auf Werbung für das Buch.

Wird der Kurzmeyersche Vorschlag, Akteuren und ihren Nachkommen vor zeitgeschichtlichen Veröffentlichungen Einblick ins Manuskript zu gewähren, zur gewohnten Praxis, dann könnte beispielsweise auch Kurzmeyer selbst über die Geschichtsschreibung seiner Familie mitentscheiden, falls sie im Auftrag des Stadtarchivs verfasst würde. Die Kurzmeyers gehören zu einer freisinnigen Politikerdynastie. Grossvater Otto war Stadtrat, Vater Werner Regierungsrat, Sohn Franz Stadtpräsident. Im Bundesarchiv entdecke ich Akten der Liberalen Partei der Stadt Luzern. Kurzmeyers Grossvater gelang es, als guthonoriertes Mitglied der Stadtregierung Bankrott zu machen, dies in einer Zeit, als die Stadt mehrmals ihren Angestellten den Lohn kürzte. Erst ein "aussergerichtlicher Nachlassvertrag" mit einer Dividende von 15 Prozent erlöste den Schuldner aus seiner finanziellen Bedrängnis: Drei Banken mussten sich 85 Prozent ihrer Forderungen ans Bein streichen. Den Rest spendeteten "Parteifreunde", um den politischen Schein zu wahren. Doch selbst danach war Grossvater Kurzmeyer nicht einsichtig, es brauchte noch erheblichen parteiinternen Druck, bis er auf eine weitere Stadtratskandidatur verzichtete und es der Liberalen Partei gelang, die Affäre unter dem Deckel zu halten.

Im Herbst 1994 erklärt Stadtpräsident Kurzmeyer mein Manuskript zur "Chefsache", befiehlt die Ausarbeitung eines juristischen Gutachtens und die Erstellung einer Liste "politisch sensibler Namen". Politisch sensibel sind Namen, deren Nachkommen heute noch zu den Einflussreichen gehören. Sensibel zum Beispiel der Namen des langjährigen Fröntlers Julius Aregger, Vater des freisinnigen Luzerner Nationalrates Manfred Aregger.
Mitte September 1995, sechs Jahre nach der Auftragerteilung, sitze ich im stadtpräsidentalen Büro. Nach seifigen Beteuerungen seines guten Willens unterstellt mir Kurzmeyer unfaire Geschichtsschreibung und verlangt "Fairness", in concretio Rücksichtsnahme, Geschichtsklitterung durch Rücksichtsnahme. Kurzmeyer will die Streichung einer Passage über Nationalrat Karl Wick (Vorwurf: moderater Antisemitismus) und einer Passage über Oberstkorpskommandant Alfred Gübeli, der anlässlich einer von General Guisan angeordneten "Frontisten-Untersuchung" im Sommer 1940, einen Berner Nazi und Leutnant erfolgreich vor drohenden Sanktionen in Schutz nahm. Falls ich mit diesen Änderungen nicht einverstanden sei, müsse ein Fachgutachten erstellt werden. Mit der Folge, dass die Veröffentlichung hinausgezögert werde. Kurzmeyer verspricht mir, seine Vorstellungen schriftlich abzugeben. Dafür nimmt er sich trölerische fünf Monate Zeit. Mir aber scheint, es gehört nicht zum Pflichtenheft eines Stadtpräsidenten, einem Autoren inhaltliche Direktiven bei der Formulierung der Lokalgeschichte zu geben.

Knapp sieben Jahre nach der Auftragerteilung, zwei Jahre nach Ablieferung eines Manuskriptes bleibt neben der vergangenen Lust an der Arbeit: Die ab 1945 propagierte Lüge von der durchwegs nazifeindlichen Schweiz lastet wie ein Stein auf den Akten. Der Stein wiegt um so schwerer, je einflussreicher die Nachkommen einer zeitgeschichtlichen Figur sind. Folglich erleidet ein Autor dialektische Staatskunde: Er hört die schönen Worte von der Freiheit der Forschung und den Archiven als Tempeln der Geschichtsschreibung, aber täglich erlebt er die realen Abhängigkeitsverhältnisse. Je kleinstädtischer, desto verlogener.

Hans Stutz
Die WochenZeitung, 10. Mai 1996
Alle Rechte beim Verfasser.