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Die Stadt, der Mord, der Mahner

In Payerne gefällt es nicht allen, dass der Schriftsteller Jacques Chessex an eine antisemitische Bluttat von 1942 erinnert

Zum Buch Der Judenmord von Payerne

Das Büchlein von knapp hundert Seiten ist ein Riesenerfolg: rund 10000 verkaufte Exemplare allein in der Westschweiz, und dies innert weniger Wochen. Doch dem Autor Jacques Chessex, der dieser Tage seinen 75. Geburtstag feierte, hat der Roman "Un Juif pour l'exemple" (etwa: "Am Juden ein Exempel statuiert") herbe Kritik in seinem Geburtsstädtchen Payerne beschert. Für den Karnevalsumzug vom letzten Februarsonntag malten "Narren" seinen Namen auf eine Milchkanne, die einen Grabstein darstellen sollte, und versahen ihn mit der gezackten Doppelrune der Nazi-Terrortruppe SS. Andere Fasnächtler aber taten Chessex die Ehre an, mit offiziell aussehenden Aufklebern mehrere Strassentafeln auf seinen Namen abzuändern.
Schon Wochen vor der Fasnacht beklagte der parteilose Gemeindepräsident Michel Roulin die Veröffentlichung des Bestsellers. Er hatte diesen zwar nicht gelesen und wollte dies auch nicht tun, sondern - wie er in mehreren Interviews betonte - die Waadtländer Kleinstadt in eine grossartige Zukunft führen, mit ziviler Nutzung des Militärflughafens und neu angesiedelten Firmen. Wie viele Leute der älteren Generation, so erklärte Roulin, wolle er sich nicht "jener schwierigen Zeiten, die man heute kaum verstehen kann, erinnern". Der Gemeindepräsident betonte zwar, er wisse um den "Schrecken dieses schmutzigen Verbrechens". Ein anderes Mal erklärte er aber auch, diese Tat sei nichts anderes als ein "fait divers", tragisch zwar, doch üblicherweise vergesse man solche Geschichten nach ein paar Tagen.

 

Täter und Hintermann verurteilt
Das Verbrechen: Am 16. April 1942 verlässt Arthur Bloch, Viehhändler jüdischen Glaubens, frühmorgens seine Wohnung in Bern, um an den Viehmarkt nach Payerne zu fahren. Acht Tage später findet die Polizei nachmittags seine Leiche im Neuenburgersee, sie ist zerstückelt und steckt in drei Milchkannen. Der örtliche Rädelsführer, Hilfsarbeiter in der Autogarage seiner Brüder und Anführer einer lokalen Nazigruppe, hat am Vormittag gestanden und den Ermittlern den Weg gewiesen. Innert Stunden verbreitet sich im Städtchen die Botschaft, der seit dem Markttag vermisste Bloch sei von Nazis ermordet worden. Als die fünf geständigen Verhafteten, alles Einwohner der Kleinstadt, abends für den Transport ins Untersuchungsgefängnis aus dem Polizeiposten in Handschellen in einen Gefangenenwagen geführt werden, verlangen Gaffer und Schaulustige Schnelljustiz.
Ein Jahr später werden die Täter wegen Mordes verurteilt, dreimal zu lebenslänglich, einmal zu 20, einmal zu 15 Jahren Gefängnis. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges verurteilt ein anderes Waadtländer Gericht Philippe Lugrin, einen militanten Fröntler und Antisemiten aus Lausanne, wegen Anstiftung zum Mord ebenfalls zu 20 Jahren Gefängnis. Dieser ist wenige Tage nach der Tat mithilfe von nazideutschen Stellen zuerst ins besetzte Frankreich, dann ins Dritte Reich geflohen. Er hatte den Anführer der Payerner Nazis angewiesen, sie müssten auf Befehl von "ganz oben" einen Juden verschwinden lassen. Auch weitere Gruppen würden nun zur Tat schreiten.

 

Als Nestbeschmutzer beschimpft
Damals lebte im Landstädtchen Payerne auch ein achtjähriger Knabe: Jacques Chessex. Sein Vater war Direktor der Gemeindeschulen und bekannt als verklärender Beschreiber des Landstädtchens, dessen Bewohner sich gerne ihres kunsthandwerklichen Umgangs mit Schweinefleisch rühmen. Jacques Chessex ist heute der bekannteste Westschweizer Schriftsteller und wird auch über die Landesgrenzen hinaus wahrgenommen.
Die Erinnerungen an die schreckliche Tat hätten ihn seit 67 Jahren verfolgt, erklärt er in einem Interview. Er hat die Tat bereits vor vierzig Jahren in einem kurzen Text behandelt, sodass ihm nun die Regionalzeitung "La Broye" vorwirft, Chessex spucke seit Langem auf seine Geburtsstadt. Auf viel Widerstand stiess denn auch Chessex' Vorschlag, in Payerne mindestens eine Gedenktafel für Arthur Bloch aufzustellen, allenfalls auch einen Platz in "Arthur-Bloch-Platz" umzutaufen. Man habe nun "Bloch ein zweites Mal umgebracht", sagte er letzte Woche über die Milchkanne am Karneval.

 

Ein Jude musste es sein
Chessex schreibt über seine Erinnerungen an die Fakten, aber auch über die inzwischen entstandenen Gerüchte, insgesamt ist sein Roman eine Zusammenfassung der örtlichen Oral History, der mündlichen Überlieferung. Doch die Erinnerung ist sowohl Muse wie Falschspielerin, wie die seit über zehn Jahren zugänglichen Gerichtsakten aufzeigen. Diese Dokumente hat Chessex nicht eingesehen. Er behauptet beispielsweise, die fünf Täter wie auch der ferne Anstifter hätten Tage vorher Bloch gezielt als Opfer auserkoren.
In Tat und Wahrheit wollte die Payerner Gruppe am Vorabend des Marktes einen Viehhändler Braun aus Basel umbringen, doch dieser war nicht auf dem Platz. Am Markttag dann lungern zwei, manchmal drei Tatwillige auf dem Markt herum. Schliesslich spricht einer Bloch an: Sein Bruder habe zwei Kühe im Stall, die er verkaufen wolle. Bloch folgt ihm in einen Stall unweit des Marktplatzes. Drei Tatwillige stehen im Stall und beobachten die Kaufverhandlungen. Nach längerem Zögern schlägt einer der Täter Bloch mit einem Eisenstab nieder.

 

Männer mit gutem Leumund
Unmittelbar nach der Verhaftung beschreibt die Polizei die Täter sofort als aussergewöhnlich gewalttätig. Allerdings sind sie alle ohne einschlägige Vorstrafen. Ja, just am Tattag bestätigt ein Gemeindepolizist in einem Leumundsbericht den guten Ruf des lokalen Anführers: Dieser sei zwar der lokale Chef einer politischen Gruppe, die mit dem Nazi-Regime sympathisiere, man betrachte ihn aber als guten Mitarbeiter, arbeitsam und zurückhaltend, charakterlich sei er ein wenig verschlossen.
Chessex erwähnt, dass sein Vater eine Zeugenaussage machen musste, weiss jedoch nicht, dass sich der Schulleiter sehr nachsichtig über den jüngsten Täter, einen ehemaligen Schüler der Schule, äusserte, wie übrigens auch ein Klassenlehrer und ein Kadettenführer. Das Geschehen hinter den Kulissen des Amtsgeheimnisses und der Medienzensur leuchtet Chessex in seinem Buch nicht aus.

 

"Widerwärtiges Blatt wenden"
In der Tat lebten die örtlichen Nazitäter bis zum Mord unangefochten in der Kleinstadt. Nach der Verhaftung werden sie sofort zu Ausgestossenen, auch in der Vergangenheit. Die Payerner Meinungsführer wollten sich ihre Untätigkeit gegenüber den örtlichen Nazis nicht vorhalten lassen. Bereits wenige Tage nach der Tat schrieb eine der beiden Lokalzeitungen, je weniger man von dieser Ungeheuerlichkeit spreche, desto besser sei es. Und nach dem Prozess klagte das Blatt zuerst, die Gerichtsverhandlung habe den Namen der Stadt "in traurige Schlagzeilen" gebracht, aber nun gelte es, "dieses widerwärtige Blatt zu wenden".
Als der Fotograf und Filmer Yvan Dalain und der Journalist Jacques Pilet in den Siebzigerjahren einen Dokumentarfilm über den antisemitischen Mord drehten, sperrten sich Payernes Notabeln gegen das Unternehmen. Der Stadtarchivar, heute noch im Amt, erklärte damals, es sei "ein verrückter und bedauerlicher Zwischenfall". Aber er denke nicht, dass man viel darüber sprechen müsse. Dieser Film, der bei seiner Ausstrahlung 1977 einige Diskussionen auslöste, fasste das bekannte Wissen erstmals zusammen. Jacques Chessex allerdings tat ihn unlängst als "schwatzhaft" ab.

 

Erinnerungsarbeit

Immer wieder dokumentiert
Wenn Jacques Chessex "nicht von Zeit zu Zeit mit diesem Thema käme", würde man nicht mehr über diese Tat sprechen, behauptet der Payerner Staatsarchivar Michel Vauthey. Er spricht an den Fakten vorbei. Chessex hatte zwar bereits früher über die Tat geschrieben, nämlich 1965 und 1967 zwei Kurztexte, die in Sammelbänden erschienen. Er ist damit aber nicht der Einzige, weder in der Romandie noch in der Deutschschweiz.
Eine ausführliche Recherche, mit vielen Interviews und Nachforschungen in der Presse der Kriegsjahre, unternahm 1977 der damals junge Journalist Jacques Pilet, zusammen mit dem Filmer Yvan Dalain. Ihr Film "Analyse d'un crime" führte zu einer kurzen und heftigen Auseinandersetzung. Das ebenfalls 1977 veröffentlichte Buch Pilets, "Le Crime nazi de Payerne", verschwand bald wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung.
In der Deutschschweiz verarbeitete der Schriftsteller Walter Matthias Diggelmann das Thema in einer Kurzgeschichte, die jedoch viele Ungenauigkeiten enthält. Das neue Buch von Jacques Chessex wird in den ersten Monaten 2010 auch auf Deutsch erscheinen.
Der Autor dieser "Bund"-Seite hat die antisemitische Tat vor bald zehn Jahren in einer historischen Reportage dargestellt. Dieses Buch ist bis anhin das einzige Werk, das sich auch auf die seit Längerem zugänglichen Untersuchungs- und Gerichtsakten stützt. Es leuchtet zudem den damaligen Hintergrund aus: Antisemitismus war in der Zwischenkriegszeit im Waadtland keine Haltung, die das gesellschaftliche Ansehen schmälerte. In der offen antisemitischen Ligue vaudoise organisierten sich demokratiefeindliche Intellektuelle und erfreuten sich des Wohlwollens einflussreicher Kreise. (H.S.)

 

Befragungen und Aufwallungen

Zählebiger Antisemitismus
In den ersten Wochen 2009 erhielten jüdische Vereine und Exponenten massiv mehr antisemitische Zuschriften und Drohungen - wie immer, wenn die kriegerischen Auseinandersetzungen sich im Nahen Osten intensivieren und die israelische Armee ihr Waffenübergewicht ausspielt. In Zürich beispielsweise landeten anonyme Flugschriften in Briefkästen, vertrieben von einem unbekannten "Verein Schweiz ohne Juden".
Die Aktualität hatte den latenten Antisemitismus, der auf viele gesellschaftlich verankerte Ideologiefragmente zurückgreifen kann, aufgeweckt, wenn auch nicht in jenem Ausmass wie 1997, als Bundesrat Pascal Delamuraz während der Diskussionen um die nachrichtenlosen Vermögen von "Lösegeldforderungen" sprach.
In den vergangenen Jahren haben mehrere Befragungen das Ausmass antisemitischer Einstellungen in der Schweiz zu bestimmen versucht, mit unterschiedlichen Ergebnissen. 1998 war eine Befragung auf 7 Prozent Antisemiten gekommen, 2000 eine andere auf 16 Prozent, und 2006 hatte eine Nationalfonds-Studie rund 20 Prozent "misanthropische" Einstellungen geortet. Darunter subsumieren Sozialforscher um den Genfer Sandro Cattacin Antisemitismus (20 Prozent), Islamfeindlichkeit (30 Prozent) und Fremdenfeindlichkeit (50 Prozent). Die Befragungen waren - soweit überhaupt feststellbar - von unterschiedlichen Kriterien ausgegangen.
2007 veröffentlichte das Berner Forschungsinstitut GFS von Claude Longchamp eine breit angelegte und strukturell neu konzipierte Studie. Das Ergebnis: Bei 10 Prozent der Befragten liessen sich "systematisch antijüdische Einstellungen" nachweisen. Diese Befragten teilten "grossmehrheitlich alle negativen Stereotype über Jüdinnen und Juden"; rund 28 Prozent wiesen ferner punktuell antijüdische Einstellungen auf. 15 Prozent seien emotional verstimmt wegen der Politik Israels, wobei Kritik an Israel nicht zwangsläufig antisemitisch sei, wogegen Antisemiten fast immer Israel kritisierten. (H.S.)

  • Die Bücher
    Jacques Pilet: Le crime nazi de Payerne, 1977 (vergriffen)
    Jacques Chessex: Un Juif pour l'exemple. Grasset, Paris 2009, 104 Seiten. 28 Franken
    Hans Stutz: Der Judenmord von Payerne. Rotpunkt, Zürich 2000, 137 Seiten, 29 Franken
  • Die Kurzgeschichte
    Walter Matthias Diggelmann: Jud Bloch
  • Der Film
    Jacques Pilet/Yvan Dalain: Analyse d'un crime, Westschweizer Fernsehen 1977

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Hans Stutz
Der Bund, 23. März 2009
Alle Rechte beim Verfasser