Als Edgar Bonjour 1962 vom Bundesrat mit der Ausarbeitung eines Berichtes über die schweizerische Neutralität beauftragt wurde und dafür uneingeschränkten Zugang zu den Quellen in staatlichen Archiven erhielt, behandelte er zwar die Goldübernahmen von Seiten der Alliierten, sparte aber in den 1970 erschienenen Berichten eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit den Raubgoldlieferungen aus NS-Deutschland aus. In den siebziger Jahren wurden die Fragen der wirtschaftlich-finanziellen Kooperation mit Deutschland und das Problem der «wirtschaftlichen Neutralität» in historischen Darstellungen überhaupt erstmals ernsthaft aufgeworfen. Einer dieser damals jüngeren Autoren, Daniel Bourgeois, lieferte 1974 mit seiner Dissertation «La Suisse et la Troisième Reich» einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der deutsch-schweizerischen Wirtschaftsbeziehungen. Er ging auf die Bedeutung der Goldverkäufe an die Schweiz ein, die es dem NS-Staat ermöglichten, sich Schweizer Franken zu beschaffen und damit Zahlungen an Länder zu tätigen, die deutsches Gold ablehnten, weil sie es als geraubt erachteten.
Bourgeois gehört damit zu den Mitbegründern einer westschweizerischen «Tradition», die sich - wie später Antoine Fleury, Sébastien Guex, Hans Ulrich Jost, Sophie Pavillon und Marc Perrenoud - kritisch, wenn auch mit unterschiedlichen Auffassungen, den verschiedenen geschichtlichen Aspekten des Finanzplatzes Schweiz zur Zeit des Nationalsozialismus zuwandte.
In seinem neuen Buch veröffentlicht Bourgeois zahlreiche gut recherchierte Aufsätze, die er im Anschluss an seine Dissertation von 1974 über die Beziehungen zwischen der Schweiz und dem «Dritten Reich» geschrieben hat. Bourgeois gelingt es, aus der an wirtschaftspolitische Positionen der Schweiz gebundenen Perspektive auszubrechen und verschiedene Gegenperspektiven nachzuzeichnen. Insbesondere behält er die Absichten und Instrumente des nationalsozialistischen Staates im Blick. Instruktiv ist zum Beispiel das im Buch als Quelle abgedruckte Memorandum des Chefs der Deutschen Industriekommission (Diko) in Bern, als dieser im April 1944 einen Rückblick und eine Einschätzung der gegenseitigen Austauschleistungen der beiden Staaten vornahm. Bourgeois stellt solche deutsche Quellen, welche die wirtschaftliche Rolle der Schweiz für Deutschland belegen, nüchtern reflektierend den schweizerischen Deutungen des Geschehens gegenüber und weist damit nach, dass spätere politische Rechtfertigungen führender schweizerischer Wirtschaftspolitiker reine Fiktionen waren. Es überzeugt, dass Bourgeois längerfristige Linien - etwa von der Landesstreik-Konstellation von 1918 her - in die Betrachtung der Jahre 1933 bis 1945 einbringt und so die gesellschaftspolitische und mentale Vorprägung einzelner Wirtschaftseliten in ihrem Verhältnis zu Deutschland deutlich werden lässt. Leser und Leserinnen wird damit in knapper Form ein präziser Einblick in die Haltung und auch in die Bedingungen, die diese Eliten seit dem Ersten Weltkrieg überhaupt hervorbrachten, geliefert.
Zu den Handlungsspielräumen, welche die Schweiz damals besass, trug nicht nur ihr Neutralitätsstatus bei, sondern auch der Umstand, dass mit der deutschen Invasion in die Sowjetunion die deutschen Kräfte im Osten gebunden waren. Bourgeois erklärt am Beispiel der Entsendung einer schweizerischen Ärztemission an die deutsche Ostfront, wie dieses Unternehmen einer «Art Hilfe für die Wehrmacht» gleichkam. Im Kontrast dazu zeigt Bourgeois die Asylpolitik von 1938 und 1942, vor allem gegenüber jüdischen Emigranten und Flüchtlingen, als eine verfehlte Hilfspolitik. Sie nutzte die bestehenden Spielräume zu wenig und wollte diese auch nicht immer zugunsten der Flüchtlinge nutzen. Stattdessen wurden mit antisemitisch unterlegten Argumenten die Türen verschlossen. Dass man sich nachträglich noch lange vom Komplizen des deutschen Staates zum Samariter der von ihm verfolgten Opfer zu stilisieren wusste, macht die historische Analyse und Reflexion, wie sie Bourgeois bietet, zu einem notwendigen Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Schweizer Geschichtsgedächtnis.
Nur ein gewöhnlicher Raubmord?
Auch das schmale Buch von Hans Stutz widmet sich diesem Gedächtnis. Entlang der Beschreibung der Ermordung des jüdischen Viehhändlers Arthur Bloch am 16. April 1942 in Payerne werden die Motivreihen und die hintergründigen Folgen des Verbrechens in den Mittelpunkt gestellt. Der Judenmord in einem westschweizerischen Landstädtchen wurde schon im Buch «Le crime nazi de Payerne» von Jacques Pilet und in einem Film von Yvan Dalain zum Gegenstand der Analyse gemacht. Stutz beschränkt sich nicht darauf, den deutschsprachigen Vermittler zu spielen - eine Rolle, die er durchaus auch erfüllt -, sondern fächert die Auseinandersetzung mit dem Thema auf mehreren Ebenen auf. Der Mord selbst wird eher knapp geschildert, ebenso seine Vorbereitungen und das Leben der am Mord Beteiligten. Es handelt sich um eine Bande Jugendlicher, die auf der Suche nach Orientierung zwischen Liberalismus und Sozialismus sind und in faschistischen Angeboten nach ultimativer Aktion und einem Ausbruch aus der von der Landbourgeoisie geprägten Kleinstadtwelt suchen. Dann rücken die Führer der Union nationale, einer frontistisch-faschistischen Bewegung, aus Lausanne und Yverdon ins Blickfeld. Allen voran Philippe Lugrin, ehemaliger Pfarrer, Judenhasser, Verehrer der antisemitischen Action Française, Schweizer Antidemokrat, Hetzparolen verbreitender Nationalist und schliesslich Parteichef der waadtländischen Union. Er ist der angebetete «Gott» der Bande, die den Mord ausführte und die sich später darauf berief, als dessen Befehlsempfänger im Interesse einer höheren Sache gehandelt zu haben.
widersprüchliche prozesse
Stutz stellt den Prozess gegen die Mörder vom Februar 1943 dem Prozess gegen den Hetzer Philippe Lugrin vom Mai 1947 gegenüber. Beide Prozesse machen das Umfeld, die Deutungsangebote in der Presse, durch Pastoren, durch lokale Notabeln deutlich. Stutz hat dazu Justizakten und politische Akten in der Schweiz und Deutschland konsultiert. Schade ist allerdings, dass er Quellennachweise nicht detailliert notiert. Einer seiner Befunde: Die Argumente der jeweiligen Urteilsbegründung der beiden Prozesse unterscheiden sich. 1943 wird Geld (die Beraubung des Viehhändlers) als treibendes Motiv genannt sowie die «intellektuelle Beschränktheit» der Angeklagten - aber nicht politisch verstandener Antisemitismus. Dieser soll zu jenem Zeitpunkt möglichst klein geschrie- ben werden. 1947, der Nationalsozialismus scheint nun erledigt, wird Lugrin in der Schweiz als Anstifter zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt. Die Begründung lautete, er habe als politischer Drahtzieher Antisemitismus als fremdländisches Demagogiegut verbreitet und sei ein glühender Anhänger des deutschen Nationalsozialismus gewesen. Lugrin versucht sich während des Prozesses zu entlasten, indem er auf die Argumentation setzte, die beim Prozess von 1943 in der Urteilsbegründung stand: Der Mörder und Hauptangeklagte habe mit seiner Geliebten abhauen wollen und deshalb Geld gebraucht.
Von Interesse ist auch die Haltung NS-Deutschlands gegenüber dem Verbrechen. Der deutsche Gesandte Otto Koecher sah in der Ermordung des Viehhändlers Bloch unter Beteiligung von Lugrin, dem Chef der Waadtländer Frontisten, die antisemitische Politik der Nazis desavouiert. Der schweizerische Aussenminister Pilet-Golaz musste sogar beschwichtigen. Das deutsche Konsulat verhalf Lugrin kurz nach dem Mord zur Flucht - um ihn in Deutschland zuerst in Festungshaft zu nehmen, dann in der Propagandaadministration zu beschäftigen, um ihn auf diese Weise stillzulegen. Nach dem Krieg wurde Lugrin von den Alliierten in die Schweiz überstellt, wo ihm der erwähnte Prozess gemacht wurde. Lugrin selber sah sich, wie er Jacques Pilet wortreich erklärt hat, als Opfer «jüdischer» Machenschaften und eines «schweizerischen» Justizirrtums.
Daniel Bourgeois: «Das Geschäft mit Hitlerdeutschland. Schweizer Wirtschaft und Drittes Reich». Rotpunktverlag, Zürich, 2000.
Hans Stutz: «Der Judenmord von Payerne». Rotpunktverlag, Zürch, 2000.
* Jacques Picard ist Mitglied der Bergier-Kommission und Lehrbeauftragter der Universitäten Basel und Luzern.
Die Wochenzeitung WOZ, 5. Januar 2001
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