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Gesellschaft mit beschränkter Demokratie

Warum die Hoffnung auf eine Schweizer Historiker-Debatte müssig ist.

Zum Buch Frontisten und Nationalsozialisten in Luzern, 1933 – 1945

Im Kreis jener, die sich mit der Schweizer Geschichte des 20. Jahrhunderts befassen, kann man sich über Arbeitsbehinderungen, Intrigen und Lügen abendfüllend Anekdoten erzählen. Klagen über Quellenverstopfungen und -verdünnungen sind auch bereits mehrmals veröffentlicht worden. Doch haben sie weder zu einer Auswechslung forschungshemmender Archivare noch zu gesetzlichen Regelungen geführt, die Aktenbenützern neben forschungsfreundlichen Sperrfristen klar definierte Rechte gäben.

Im Gegenteil: Erst vor wenigen Monaten hat der Aargauer Regierungsrat die Einsichtsverweigerung in Akten von bekannten Aargauer Fröntlern, hiesigen Anhängern nationalsozialistischen Gedankenguts, verteidigt.

 

Mechanismen von Selbstschutz
Da sind einmal die, welche seinerzeit das Sagen hatten. Und da sind auch noch deren Nachkommen. Sie haben manchmal wieder das Sagen oder zehren vom Reichtum, den ihre Ahnen angehäuft haben. Für die einen wie für die andern ist Geschichtsschreibung erstens Desillusionierung («Papi war ja gar nicht der menschenrechtsfreundliche Demokrat, als den er sich feiern liess»). Zweitens sehen sie dadurch die Legitimation der eigenen Macht, des eigenen Besitzstandes in Frage gestellt.
        Kaspar Villiger zum Beispiel hat sich zwar letztes Jahr als Bundespräsident für das Versagen der Schweiz in der Flüchtlingspolitik des Zweiten Weltkriegs entschuldigt. Aber als Vorsteher des Militärdepartements hat er im Sommer und Herbst 1989 mit den geschichtsklitternden «Diamant»-Feiern die Volksinitiative der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee bekämpft. Und 1978 hat er, noch als Firmenchef, eine geschönte Familienchronik mitherausgegeben. Die nachträgliche Enthüllung über das zwielichtige Geschäftsgebaren der Zigarrenfabrik Villiger in Nazi-Deutschland hat der Bundesrat ohne politischen Schaden überstanden. Die Medienschaffenden, die die unerwünschte Botschaft übermittelten, sind hingegen vielfach und öffentlich verunglimpft worden.

 

Deckmantel der Verschwiegenheit
Was für Einzelpersonen zutrifft, gilt auch für Parteien, Kirchen und Verbände. Auch sie lassen an ihre Archive vorzugsweise Forschende, die wissen, wo sie ein Auge zudrücken sollen. So hat der Zuger Historiker und Kantonsparlamentarier Jo Lang unlängst nachgewiesen, dass in zwei grundlegenden Werken zur Geschichte der Katholisch-Konservativen kein einziges Wort über die antisemitischen Flecken auf dieser Parteiweste steht. Verfasst wurden die Sammelbände von Historikerinnen und Historikern um den Freiburger Unidozenten Urs Altermatt, den Schweizer Doyen der Geschichtsschreibung katholisch-konservativer Tradition. Das alles überrascht nicht: Die offizielle Schweiz ist nicht eine Gesellschaft von Citoyens, sondern von Bourgeois, und der massgeblichen Schicht gelingt es meist, grundsätzlichen Streit unter dem Deckel der Verschwiegenheit zu behalten. Gelegentlich mit gütiger Mithilfe von gewerkschaftlicher und sozialdemokratischer Seite.
          Die Confoederatio Helvetica ist eine Republik mit beschränkter Demokratie. An ihrem Diskurs kann sich mehr oder weniger wirkungsvoll nur beteiligen, wer sich an die vielen informellen Absprachen hält: Kollegialitätsprinzip der Exekutive, Vertraulichkeit parlamentarischer Kommissionen, «Vorschlagsrecht» lediglich für Dinge, die im voraus als diskussionswürdig eingestuft wurden. Anders ausgedrückt: Die Schweiz nennt sich eine Demokratie, aber der politische Common sense hierzulande stigmatisiert die öffentliche Debatte grundsätzlicher Widersprüche und Interessen. Und solange dem so ist, werden Historikerinnen und Historiker blosse Materiallieferanten bleiben: Ihre Forschungsergebnisse wird man je nach politischer Wetterlage konsultieren oder unbeachtet liegenlassen.

 

Es braucht die D'Amatos
Nehmen wir als Beispiel die Vermögen von Holocaust-Opfern. Die stille Salon- und Wandelhallen-Kumpanei von Bundesrat, Bundesbürokratie, eidgenössischem Parlament, Banken, Versicherungen und Industrie hat es in den vergangenen Jahrzehnten mehrmals geschafft, missliebige Diskussionen zu vermeiden. Es brauchte den Druck gewichtiger politischer Kräfte, diesmal des Jüdischen Weltkongresses und des US-Senators Alfonse D'Amato, bis jene Fragen endlich öffentlich diskutiert werden, die sich aus einigen historischen Recherchen längst ergeben haben. So klingt die Forderung nach einer «Schweizer Historiker-Debatte», die Jürg Schoch auf dieser Seite kürzlich erhoben hat (TA vom 21. September), zwar gut. Sie wird sich aber kaum erfüllen. Nicht, weil die, welche in diesem Land historische Forschung betreiben, «ein Marketing-Problem» hätten, wie Jürg Schoch vermutet. Auch nicht, weil sie die «Sprache des Volkes» nicht schreiben. Vielmehr mangelt es am Bedürfnis nach Selbsterforschung in dieser Gesellschaft.

Hans Stutz ist freischaffender Journalist in Luzern. Im Auftrag des Stadtarchivs Luzern verfasste er das Manuskript «Frontisten und Nationalsozialisten in Luzern, 1933 – 1945». Wegen vorauseilender Rücksichtnahmen blieb es bis heute unveröffentlicht.

Tages-Anzeiger, 26. Oktober 1996
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