Eine Studie der EU-Agentur für Menschenrechte FRAU verbreitete im vergangenen Herbst 2013 eine irritierende Nachricht: Der Antisemitismus sei in der Wahrnehmung der meisten europäischen Juden stärker geworden. Kann sich die Verunsicherung auf Zahlen stützen? Zumindest in der Deutschschweiz nicht. Nur 22 Fälle (und damit drei weniger als 2012) zählt der Antisemitismusbericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes SIG für das vergangene Jahr. Anders die Coordination intercommunautaire contre l'antisémitisme et la diffamation CICAD. Sie erwähnt 151 Vorkommnisse allein für die Westschweiz, dies sei gegenüber 2012 ein Anstieg um 75 Prozent. Sie zählt elf gravierende Ereignisse (actes sérieux), worunter sie nichtgewalttätige aber gezielte Angriffe (Drohungen, Beleidigungen) gegen Personen oder Organisationen zählt. Die meisten Drohungen und Belästigungen richteten sich gegen die CICAD selbst. Auch die SIG erhielt 2013 mehrere antisemitische Zuschriften.
Die CICAD-Zahlen sind kein Beleg für eine stärkere Verbreitung des Antisemitismus in der Romandie, sondern die Folge einer innovativen, da exzessiven Zählmethode. Ein Beispiel: Im Mai 2013 entschuldigte sich SVP-Bundespräsident Ueli Maurer vor dem SIG-Kongress dafür, beim Holocaust-Gedenktag die Fehler der Schweizer Flüchtlingspolitik unerwähnt gelassen zu haben. In den Online-Kommentaren der Tageszeitung "Le Matin" entdeckt die CICAD daraufhin vierzehn antisemitische Äusserungen und zählt jeden als eigenen Vorfall.
Ein zweites Beispiel: Über zwanzig Vorkommnisse gehen auf das Konto eines einzigen Autors: Julien Gunzinger, Anhänger der Priesterbruderschaft St. Pius X., also der Ecône-Bewegung. Auf seiner Homepage verbreitet Gunzinger die ganze Palette antisemitischer Vorstellungen. Er vermengt - getreu vorkonziliärer aber auch rechtsextremer Tradition - Antimarxismus, Antiliberalismus, Freimaurerfeindschaft und Klage an der Moderne mit Antisemitismus. Er leiert die Klage, dass die Juden Jesus nicht als Gottessohn anerkannt hätten. Er wiederholt die Parole, dass der "Erzfeind des Christentums die Synagoge" und die Französische Revolution "satanisch und talmudistisch" gewesen sei. Die CICAD dokumentiert damit - als einzige - den Antisemitismus des Milieus fundamentalistischer Westschweizer Katholiken. Unerwähnt lässt sie hingegen - wie bereits seit Jahren - die langjährigen Westschweizer Rechtsextremisten - wie Gaston-Armand Amaudruz, René-Louis Berclaz und dem Ehepaar Paschoud, die seit Jahrzehnten immer wieder gegen die Juden, manchmal auch gegen den Staat Israel agitieren.
Anders die Chronologie "Rassismus in der Schweiz", verfasst vom Autor dieses Beitrages, Sie dokumentiert rassistische Fälle (für 2013 bis anhin 57), die öffentlich wahrgenommen werden konnten. Sie stützt sich vorwiegend auf Medienberichte, selten auf eigene Recherchen. Sie vermittelt dazu einen ausführlich Kurzüberblick über rechtsextreme Aktivitäten. Ihr Fazit: In der Deutschschweiz waren 2013 nur wenige Akteure aktiv, meist in der Partei National Orientierter Schweizer PNOS oder deren Umfeld. In der Westschweiz agieren - besonders in der Region Genf - mehrere rechtsextreme Gruppen oder Grüppchen, fast täglich im Internet, selten auf der Strasse. Einige vermengen Versatzstücke von rechtsextremen wie auch von islamistischen Ideologien. Zu ihren Aktivisten zählen auch junge Männer, deren Eltern sich in der Schweiz niederliessen.
Auch im Jahre 2013 war es vorwiegend die muslimische Gemeinschaft, die Diffamierungen und Anfeindungen ausgesetzt war, bis hin zu einer neuen diskriminierenden Bestimmung (Burkaverbot im Kanton Tessin). Der schlecht organisierten muslimischen Gemeinschaft gelingt es jedoch (noch) selten, diese Anfeindungen zu skandalisieren. In den Medien sind Berichte über rassistische Vorfälle zurückgegangen, bei den Beratungsstellen suchen jedoch mehr Opfer Rat und Unterstützung. Auch Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld, bestätigt im SIG-Bericht: "Wir wissen, dass die meisten Vorfälle gar nicht gemeldet werden."
In einem wichtigen Punkt stimmen CICAD, SIG/GRA und die Chronologie "Rassismus in der Schweiz" überein. Weder Rassismus gegen Schwarze noch Antisemitismus noch Islamophobie noch Feindschaft gegen Fahrende und Roma äusserten sich 2013 gewalttätig, mit einer Ausnahme. Im Januar 2013 griffen vier Skinheads einen Tamilen tätlich an, begleitet von üblen rassistischen Verwünschungen. Die Täter wurden gefasst und verurteilt. Und für alle drei Berichte gilt, was Ronnie Bernheim, Präsident der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus GRA, und Markus Notter, Präsident der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz GMS, im Editorial der Chronologie schreiben, sie sind "ein Instrument zur Sensibilisierung für Fehlverhalten in unserer Gesellschaft."