In allen Ländern Europas agieren rechte Parteien und Organisationen, die gegen die Europäische Union, die Migranten und liberale Gesellschaftskonzepte ankämpfen. Sie haben wenige gemeinsame Positionen, aber noch mehr, das sie trennt.
Andreas Speit, Martin Langebach. Sie haben das Buch "Europas radikale Rechte" im Januar 2013 beendet. In welchem Land gibt es zwischenzeitlich die markanteste Veränderung?
Andreas Speit: In Frankreich, dort haben sich - in der Mitte der Gesellschaft - Rechtskonservative bis militante Neonazis gemeinsam auf die Strasse begeben. Alle sind sie gegen die Gleichstellung von Homosexuellen. Das ist ein neuer Prozess, der sich aber bereits zuvor absehen liess. Die Ablösung des bürgerlichen Präsidenten Nicolas Sarkozy durch den Sozialisten François Hollande brachte Dynamik im rechtskonservativen wie im neonazistischen Lager. Beide versuchen sich neu zu positionieren, beide suchen neue Themen.
Ist diese Entwicklung durch die Machtübernahme Hollandes beschleunigt worden, oder folgt sie der Eigendynamik der Rechten.
Speit: Bereits während des französischen Wahlkampfes ist uns aufgefallen, dass die Wahlkämpfer schnell von politischen zu vorpolitischen Themenfeldern gewechselt haben. Wir haben gespürt, dass es für die Rechten um einen Kulturkampf geht. Wir hörten den Vorwurf, die Sozialisten wollen die Familien und die traditionellen Werte zerstören, sie würden den US-amerikanischen Way-of-Life einführen wollen.
An sich bekannte Positionen von Rechtskonservativen wie von Radikalen Rechten.
Speit: Ja, für uns war aber überraschend, dass bei Gesprächen mit französischen Wahlhelfern weder Einwanderung noch Islamisierung im Vordergrund standen. Hier deutete sich eine Themenverschiebung an, die dann bei den Protesten gegen die Gleichstellung auf der Strasse sichtbar wurde.
Sie gehen davon aus, dass die Radikale Rechte in Europa sich bewusst als "Tabu-Brecher" inszenieren. Ist diese Ablehnung des "Politischen Korrekten" auch ein Ausstieg aus dem antifaschistischen Grundkonsens der Jahrzehnte nach 1945?
Martin Langebach: Wir haben eine rhetorische Figur mehrmals beobachtet. Man unterstellt ein Dogma und behauptet dann "Das muss man doch einmal sagen dürfen". Verbunden mit dem Versuch, aufklärerische und humanistische Positionen zu demontieren.
Sie benützen durchwegs den Begriff "Radikale Rechte" und verstehen darunter das ganze Spektrum von "Rechtspopulisten" bis zu Rechtsextremen und Neonazis.
Langebach: All diese Bewegungen, ob rechtspopulistisch oder nazistisch, waren immer uneinig darin, wohin sie wollten, beispielsweise in der Wirtschaftspolitik. Das gemeinsame ideologische Fundament der radikalen Rechten ist ein völkischer Nationalismus, unabhängig davon ob man "Volk" nun über Rasse oder über "Kultur" definiert.
Speit: In den 1960er-Jahren hat es die Neue Rechte, ausgehend von Frankreich, - unter dem Motto weg von der "Rasse" hin zur "Kultur" geschafft, den Begriff "Kultur" als neuen Kampfbegriff in die Diskussion einzuführen. Sie hat die ideologische Erneuerung und Modernisierung der Radikalen Rechten vorangetrieben. In der Zwischenzeit orientieren sich auch Parteien wie die Nationaldemokratische Partei NPD "am "Kulturalismus" oder am "Ethnopluralismus".
Rechtspopulisten wie auch radikale Rechte lehnen die Anwesenheit von Musliminnen und Muslime in Europa ab. Einer der Trennungslinien zwischen den beiden Tendenzen ist ihre unterschiedliche Position zum Staat Israel. Extreme Rechte lehnen Israel aus antisemitischen Gründen ab, rechtspopulistische Muslimfeinde sehen in Israel einen Vorkämpfer im Kampf gegen den Islam.
Speit: Einen Teil der Muslimfeinde zählen wir nicht zu den radikalen Rechten, mit der sie nur im Punkt "Ablehnung von Muslimen" übereinstimmen, beispielsweise die Gruppe "Bürger in Wut", die in Bremen Mandate hat. Was den positiven Bezug zu Israel und die Ablehnung von Antisemitismus betrifft, sind wir nicht so sicher. In Österreich (FPÖ) und Schweden (Schwedendemokraten) sind die Parteispitzen zurückgerudert, nachdem sie innerparteilich vehement angegangen wurden. Die führenden Mitglieder haben zwar einen positiven Bezug zu Israel und den USA, ihre Leute auf der Strasse haben nur ein Thema "Gegen den Islam".
Langebach: Ich möchte sogar zuspitzen. Das Verhältnis zu Israel ist instrumentell positiv. Der einzige gemeinsame Punkt ist: Israel steht an der Front gegen den Dschihad.
Antisemitismus war bis anhin ein fester Bestandteil der Ideologie von Radikalen Rechten. Wird in naher Zukunft Muslimfeindschaft an die Stelle treten?
Langebach: In den westeuropäischen Ländern, denen es trotz der Finanzkrise noch einigermassen gut geht, sind die Themen "Einwanderung" und "Islam", ein zentrales gesellschaftliches Thema, in einigen Ländern dient es bei Wahlkämpfen auch zur Mobilisierung. In den anderen europäischen Ländern, vor allem aber in Osteuropa, ist es die Bedrohung durch die Sinti und Roma. In diesen Ländern ist auch die Aufarbeitung des Antisemitismus noch enorm weit weg.
Nochmals: Wird Islamophobie die gesellschaftliche Funktion des Antisemitismus übernehmen?
Langebach: Islamophobie kann Antisemitismus nicht ablösen, weil die Denkfiguren der Muslimfeindschaft nicht so ausgeprägt sind wie im Antisemitismus. In den Denkmodellen der Islamophobie fehlen Verschwörungsvorstellungen der wirtschaftlichen Dominanz wie bei den Juden. Fortbestehen wird die antisemitische Vorstellung von Unterwanderung von Staat und Gesellschaft, Indoktrination von Politik.
Speit: Antisemitische Vorstellungen sind tief verankert. Ein Beispiel: Die NPD versucht seit Jahren als moderate Partei aufzutreten. Doch in ihren Schulungsmaterialien wird explizit erklärt: Globalisierung sei ein Projekt des "nomadischen Kapitals, beheimatet an der Ostküste der USA". Unverhohlener kann man Antisemitismus heute gar nicht mehr formulieren - außer man greift auf die alten Formulierungen vom ‚Raffenden Kapital' zurück.
Die NPD zählt zur extremen Rechten. Gilt diese Feststellung auch für Rechtspopulisten?
Langebach: Nehmen wir die österreichische FPÖ. Unter den Mitgliedern hört man klassische antisemitische Verschwörungstheorien, auch von Parlamentariern. Öffentlich jedoch werden solche Vorstellungen selten geäussert.
Das bedeutet: Antisemitismus verspricht keine politischen Erfolge mehr, Muslimfeindschaft jedoch schon?
Langebach: Für Österreich, ja. Bereits in Ungarn gilt dies jedoch nicht mehr. Muslimfeindschaft ist selten ein Thema, Antisemitismus ist jedoch virulent, gesellschaftlich tief verankert und kann politisch abgerufen werden. Getrennt oder zusammen mit Roma-Feindschaft.
Speit: Antisemitismus wird weiterhin das zentrale ideologische Moment im rechtsextremen Denken bleiben. Europaweite Studien weisen aber auch nach, die Sorge um Zuwanderung und kultureller Überfremdung ist in mehreren europäischen Ländern ein Thema, das man zur Mobilisierung nutzen kann.
Im Europarat sitzen zurzeit 34 Abgeordnete der Radikalen Rechten. Im kommenden Jahr wollen sie wieder in verschiedenen Ländern an den Europawahlen teilnehmen. Wie schätzen Sie die Aussichten ein?
Speit: Diese Parteien sind zwar alle gegen die Europäische Union EU, doch sie bereiten sich in allen Ländern mit grossem Aufwand auf diese Europawahlen vor. Die NPD beispielsweise erhofft sich von ihnen mehr als von den Bundestagswahlen. Ihre Erfolgungschancen sind besser, dies wegen den Wahlregeln, das heisst keine Fünf-Prozent-Hürde.
Langebach: In den anderen Ländern sieht es unterschiedlich aus. In England hat sich die British National Party, die bereits in Strassburg sitzt, zerstritten, dazu ist die Britische Unabhängigkeitspartei ein starker Gegner. In Frankreich hingegen wird der Front National von Marine Le Pen Mandate ihre drei Sitze wohl halten können. Ebenso in Ungarn, wobei hier nur unklar ist, ob die Jobbik in gleichen Stärke den Wiedereinzug schafft. In Österreich werden die Freiheitlichen unter Hans-Christian Strache wohl gut abschneiden.
Speit: In Griechenland schafft es die Goldene Morgenröte immer mehr sich als militante Kümmererpartei zu inszenieren. Viele Leute sind von den traditionellen Parteien enttäuscht. Ernüchternd ist, dass in reichen wie in ärmeren Ländern Europas die Bereitschaft wächst, radikal rechts zu wählen.
Das Interview führte Hans Stutz Anfang Juli 2013 in Hamburg.
Vielfalt der Radikalen Rechten
In allen europäischen Ländern agieren Parteien und Bewegungen, die eine plurale und demokratische Gesellschaft bekämpfen oder ablehnen. Alle haben sie zwei gemeinsame Gegner, die europäische Union und die multikulturelle Gesellschaft. Der Soziologe Martin Langebach und der Freie Journalist Andreas zählen die meisten dieser Strömungen zum Spektrum der "Radikalen Rechten". Es umfasst Rechtspopulisten (à la SVP) bis zu neonazistischen Gruppen.
Langebach und Speit besuchten in den vergangenen Jahren das Europaparlament sowie Veranstaltungen der radikalen Rechten in elf europäischen Ländern, darunter auch den rechtsextremen Rütliaufmarsch Anfang August 2012. Sie schildern ihre Beobachtungen in präzisen Reportagen, in die sie Gespräche mit jeweils landeseigenen Forschern und Beobachtern einfliessen lassen. Entstanden ist ein Buch, das dem Leser eine aktuelle und vertiefte Einschätzung über die rechten Strömungen in Europa verschafft, von Schweden bis Griechenland.
Martin Langebach/Andreas Speit. Europas radikale Rechte. Bewegungen und Parteien auf Strassen und in Parlamenten. Zürich, 2013.