Der Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher schrieb unlängst im «Tagesanzeiger», im Ukraine-Krieg gehe es «um mehr als Geopolitik», sondern auch um weitreichendere Fragen, „wie in Zukunft nicht nur Nationen, sondern Menschen miteinander umgehen“. Konkret gehe auch um „Minderheitenrechte, der Umgang der Geschlechter untereinander, Kinderrechte, Sozialstaat, unser Umgang mit der Klimakatastrophe …“ Er hat recht. Die unterschiedlichen Positionen sind bereits erkennbar. Dies lässt sich für die Schweiz daran ablesen, wie die SVP oder einzelne SVP-Exponenten sich zu Russland, zu Putin und zu Russlands Kampf gegen die Ukraine stellen.
Zuerst ein Blick zurück. Oskar Freysinger, damals Walliser SVP-Staatsrat und eingeladen zu den jährlichen Gedenkfeier zum Sieg über Nazideutschland, stand im Mai 2016 auf dem Roten Platz vor der Kamera eines russischen Fernsehsenders. Russland hatte die Krim bereits annektiert, doch der SVP-Vizepräsident wollte seine Begeisterung für Wladimir Putins Politik nicht für sich behalten, ebensowenig seine Kritik an den liberal orientierten europäischen und nordamerikanischen Ländern. Im Westen sei eine „Art von sanfter UdSSR“ am Entstehen, dozierte der frühere Lehrer: „Ohne Gulag“, aber „identisch im Geist“. Die Bürgerrechte seien „gefährdet“, besonders die Redefreiheit. Wer im Westen „gewisse Sachen“ sage, werde von den Medien „zerstört“. (Man erhält den Eindruck, Freysinger habe sich als Feuilleton-Redaktor bei der NZZ bewerben wollen.) Seine Schlussfolgerung: Während im Westen „ein milder Totalitarismus“ entstehe, sei Russland ein „diskretes Reich der Freiheit“ und dies, weil das Land seine „Spiritualität“ wieder entdeckt habe. Denn, so Freysinger, wer sich nicht auf seine Werte zurückbesinne, werde untergehen.
Weltwoche-Köppel umschrieb es unlängstähnlich in den Tagen vor Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine: Putin stehe für «Tradition, Familie, Patriotismus, Krieg, Religion, Männlichkeit, Militär, Machtpolitik und nationale Interessen». Wobei «Religion» hier wohl ausschliesslich das «christlich-jüdische Abendland» meint, Muslime folglich ausserhalb stehen. Oder wie Viktor Orban seine «christliche Demokratie» umschreibt. Diese sei «illiberal». Sie sei gegen die «Migration», sie bevorzuge die christliche Kultur und «das Modell der traditionellen Familie.» Dieses Modell wird ja auch von den Strenggläubigen aller grossen Religionen eifrig verteidigt.
Auch Waldimir Putin unterstützte sie in seiner letzten Ansprache an die Nation wider «die westlichen Eliten». Vorantreiben würden diese «die Zerstörung der Familien», wie auch der «kulturellen und nationalen Identität». Ja, diese Eliten würden «Priester zwingen, gleichgeschlechtliche Ehen zu segnen».Der polnische Soziologe Zygmunt Bauman nennt solche Vorstellungen «Retrotopien». Visionen, die sich «aus der verlorenen/geraubten/verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit» speisen. Die Bruchstelle ist die Aufklärung, die Französische Revolution und die Erklärung der Menschenrechte.
Nichts Neues im Osten, nichts Neues im Westen also. Ob Freysinger, Putin, Viktor Orban, Roger Köppel, Ronald Trump, Giorgia Meloni oder wer auch immer: Diese Rechten sehen sich im Kulturkampf gegen jene liberalen Regeln und Lebensweisen, die sich nach 1968 in vielen Ländern der Welt gesellschaftlich durchgesetzt haben.
Allerdings: In den SVP-Parteiverlautbarungen fehlt die Unterstützung der Familien für Frauen und Kindern, die dem Kriegsgeschehen entfliehen müssen oder wollen. Aber in die Schweiz sollen sich nicht kommen, diese schwierige Aufgabe sollen die Nachbarländern übernehmen. Die staatliche Abstützung von weniger begüterten Familien war noch nie eine Stärke der „Partei des Mittelstandes“. Bereits nach der russischen Annexion der Krim. Einzig und allein, die Forderung nach umfassender Neutralität. Nicht nur „juristisch und militärisch verstandene“, sondern „gelebte“. Im Klartext: Keine Sanktionen gegen Russland, weder „diplomatisch, finanzpolitisch oder wirtschaftlich“. Das heisst, trotz Krieg und Unrecht, keine Hindernisse für Oligarchen, Rohstoffhändler und andere Kriegsgewinnler. So stand es einer SVP-Mitteilung vom August 2014. So schreibt es Roger Köppel Mitte Januar 2023 in der Weltwoche. „Der Ausstieg aus dem Wirtschaftskrieg“ würde der Schweiz „Respekt verschaffen“.