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Kulturkampf um die Republik

Auch rechts der SVP bewegt sich etwas, manchmal mit, manchmal ohne Bundesratspartei – ein Blick auf die Situation.

Unlängst in Bern. Bundeshaus. Zwei ältere Herren und drei junge Frauen lächeln in eine Kamera. Der Walliser SVP-Nationalrat Jean-Luc Addor und SVP-Parteipräsident Mauro Chiesa. Mit ihnen drei Exponentinnen des Collectif Nemesis. Eine Frauengruppe der identitären Rechten, aktiv in Frankreich und der Westschweiz. Die Frauen behaupten, gesellschaftliche Probleme seien eine Folge der Zuwanderung aussereuropäischer Männer. Sie streben ein nationalistisch organisiertes christliches Europa der Vaterländer an. Sie verbreiten Familienbilder, als ob sich die Emanzipation der Frauen rückgängig machen liesse.

Unklar ist, was die SVP-Männer über den politischen Hintergrund ihrer Besucherinnen wussten. Klar ist, alle fünf gehören sie zur selben politischen Grossfamilie. Sie ersehnen eine idealisierte Zukunft, die sie, so der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman, «aus der verlorenen/geraubten, verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit» erfinden. Sie hadern mit einem zentralen Axiom der Aufklärung und der bürgerlichen Revolution: «Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten.» Ein aktuelles Beispiel: «Gegen die neuen säkularen Heilslehren in der Folge der Französischen Revolution» brauche es den «Widerstand der Christen und ihrer Kirchen», fordert Weltwoche-Chefredaktor und noch SVP-Nationalrat Roger Köppel, angewidert von der verbreiteten Empörung über den sexuellen Missbrauch innerhalb der römisch-katholischen Kirche. Unverblümter sagte es im vergangenen Jahr Alain Späth, Sprecher der Bewegung «Civitas Suisse», aus dem Umfeld der fundamentalistisch-katholischen Pius-Bruderschaft (Ecône): «Man kann nicht gleichzeitig Katholik und Demokrat sein.»

Wandlung zur rechtsoffenen Partei
Seit der SVP-Neuorientierung ab Mitte der 1980er-Jahre, vorangetrieben durch Christoph Blocher, ist die einstige Klientelpartei der Bauern und Gewerbler rechtsoffen. Was Rechtsextremisten nicht lange verborgen blieb. Ende der 1980er-Jahre freute sich Gaston-Armand Amaudruz, jahrzehntelang die Schlüsselfigur der Schweizer Neonazis: «Endlich ein Systempolitiker, der die Augen aufmacht.» Mit zwei Folgen: Erstens drängte die finanzstarke SVP ab 1991 die ‹Überfremdungspartei› Schweizer Demokraten und die Raser und Rassistentruppe «Autopartei» in die politische Bedeutungslosigkeit. Zweitens zeigen sich auf der SVP-Weste immer wieder rassistische und rechtsextremistische Flecken. Die Partei reagiert erst, wenn nach Aufdeckung durch Medienschaffende oder politische Gegner der öffentliche Widerspruch zu heftig wird. Aktuelles Beispiel: Maria Wegelin, SVP-Nationalratskandidatin aus Winterthur, lässt sich die Medienarbeit ihrer Kampagne von Manuel Corchia und Tobias Lingg gestalten, den zwei bekanntesten Exponenten der «Jungen Tat». Wegelin ist für Medienschaffende nicht zu sprechen. Der Vorstand, dem Wegelin ebenfalls angehört, sieht zuerst kein Problem: Die «Wahl der Medienpartner» sei «eine persönliche Sache» aller Kandidierenden. Dann meldet der Zürcher Hauseigentümerverband (HEV), entweder Distanzierung oder sonst Rückzug der Wahlempfehlung. (Bis Abgabe dieses Textes äusserte sich Wegelin nicht.).

Von Skinheads zu Identitären
In den vergangenen Jahren wandelte sich die Schweizer Rechtsextremisten-Szene: Die neonazistisch inspirierten Skinhead-Subkulturen (Blood and Honour und Hammerskinheads) mutierten zu Altherren-Freundeskreisen. Die Partei National Orientierter Schweizer PNOS, die viele Jahre lang Skins für Konzerte und Aufmärsche mobilisieren konnte, löste sich im Februar 2022 auf.

Das Vakuum füllten junge politische Aktivisten, die sich an den Vorstellungen der Neuen Rechten, insbesondere der Identitären, orientieren. In der Westschweiz die Gruppe «Résistance Helvétique», in der Deutschschweiz die Gruppe «Junge Tat». Rund fünfzig Männer und Frauen sollen der Gruppe – gemäss Eigenangaben – angehören. Zuerst neonazistisch orientiert, sind ihre bekanntesten Mitglieder Manuel Corchia und Tobias Lingg heute international vernetzt. Sie sprechen vom angeblich stattfindenden «Bevölkerungsaustausch» und von «Remigration», der angestrebten Massendeportation von Menschen nicht-europäischer Herkunft. Mit diesen beiden Begriffen argumentieren heute auch SVP-Vertreter. Bereits vor Jahren hatte der Österreicher Martin Sellner, der international bekannteste deutschsprachige Identitärer, das Ziel gesetzt, «den Begriff des Grossen Austausches und die dahintersteckenden Erkenntnisse im patriotischen Lager zu hegemonialisieren». Im deutschsprachigen Raum ist dies bei Rechtsaussenparteien gelungen, ebenso bei französischen Rechtsextremisten.

Woke und Gender
Zwei gesellschaftliche Langzeitthemen beeinflussen die anstehenden Wahlen. Mediale Langzeit-Kampagnen gegen Gender- und Woke-Vorstellungen haben erfolgreich gesellschaftliche Liberalisierungen diskreditiert. Und der Widerstand gegen die Pandemie-Massnahmen zeigte Nebenwirkungen. Verschwörungserzählungen sind weiterverbreitet als bis anhin sichtbar. Verbunden einerseits mit wirtschaftslibertären, gelegentlich mit antisemitischen Vorstellungen. Die Kundgebungen waren laut und gelegentlich gut besucht, Wahlerfolge sind wenig wahrscheinlich. Dreimal haben Massnahmenkritiker das Referendum gegen Corona-Gesetze ergriffen, dreimal mit durchschlagendem Misserfolg. Auch wenn sie in mehreren Kantonen Listen einreichten, hat nur «Mass-Voll» Aussicht auf einen Sitz. Im Kanton Zürich genügen dafür rund 2,7 Prozent der Stimmen. Der Mass-Voll-Primus Nicolas Rimoldi ist rechtzeitig von Luzern nach Zürich umgezogen. Zuerst freisinnig, dann libertär, dazu nun auch rechtsextremistisch. Zusammen mit den «Junge Tat»-Aktivisten Corchia und Lingg wollte er mit ein paar Holzpfosten die Grenze sichern. Denn: «Die westliche Zivilisation» stehe vor «dem Untergang». Deshalb müsse man die «Invasion stoppen»! Auch hier nichts Neues: Kulturpessimismus verbunden mit martialischem Auftreten.

Die Wahlen von Ende Oktober seien «Korrekturwahlen», sagt der bekannte Politologe Claude Longchamp. Vor vier Jahren hiess es, die Grünen hätten die Wahlen gewonnen. In der Tat: Grüne/Grünliberale erreichten rund zwanzig zusätzliche Sitze, die SVP verlor zwölf. An den Kräfteverhältnissen änderte dies wenig: Die drei grossen bürgerlichen Parteien behielten eine deutliche absolute Mehrheit in beiden Kammern. Gemäss Umfrage-Prognosen soll die SVP diesmal Sitze dazugewinnen, die Grünen hingegen einige verlieren. Bei FDP und Die Mitte hingegen werden nur geringe Veränderungen erwartet. Ebenso bei den Sozialdemokraten. Die Nationalkonservativen (SVP, EDU und andere) – haben in der vergangenen Legislatur zwar häufig Themen setzen können, doch die Erfolgsbilanz ist durchzogen. Eine knappe Mehrheit der Stimmenden bejahte im März 2021 das Verhüllungsverbot, nach einer auch islamophob geführten Kampagne. Doch ihr Widerstand gegen die «Ehe für alle» blieb erfolglos, ebenso jener gegen die Ausweitung der Rassismus-Strafnorm auf sexuelle Orientierung. Die gesellschaftliche Liberalisierung ist besser verankert, als es sich Traditionalisten wünschen. 

Hans Stutz
Tachles, Beilage Wahlen, 29. September 2023
Alle Rechte beim Verfasser.