‘Geschichtsrevisionismus’ sei nicht «die Absicht», doch «aufgrund der neuen Fakten wohl unumgänglich» gewesen, so das Fazit der Historikerin Heidy Greco-Kaufmann in ihrer Biographie über Oskar Eberle (1902-1956). Sie positioniert sich damit in einer Historiker-Debatte, ausgelöst 2020 durch die beschönigende Biografie des katholisch-konservativen Bundesrates Philipp Etter, verfasst von Thomas Zaugg, heute Co-Präsident des Innerschweizer Schriftsteller Vereins (ISSV). Der Historiker Jakob Tanner hatte Zaugg daraufhin überzeugend «Geschichtsverdrängung» und die «Umdeutung individueller Lebenswege» vorgehalten. Und Zaugg habe einen «empathischen Zugang zur Persönlichkeit» Etters entwickelt, «in dem sich Verstehen und Verwischen auf prekäre Weise vermischen» würden.
Auch Greco-Kaufmann versucht eine Umdeutung des Wirkens Oskar Eberles, auch sie verwischt eindeutige Spuren und verwedelt unerwünschte Erkenntnisse bei ihrer ausschweifenden Beschäftigung mit dem umtriebigen Theatermann, Theaterhistoriker und Regisseur Oskar Eberle, hineingeboren in einen gutsituierten Schwyzer Clan. Sie erhielt umgehend publizistische Unterstützung. Daniel Annen, einst Präsident des Innerschweizer Schriftsteller Vereins ISSV, schreibt in seiner Rezension, offensichtlich inspiriert von Aktivisten wider Woke- und Gender-Vorstellungen: «Die Realität» sei Eberle wichtiger gewesen «als eine identitätspolitisch gesteuerte Zugehörigkeitskategorie», fragwürdig sei daher «sein angeblicher Antisemitismus». Beide ISSV-Exponenten haben Greco-Kaufmann bei ihrem Nationalfonds-Projekt (Siehe Kasten) begleitet oder unterstützt.
Mehrere Publikationen zur Schweizer Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts haben viele antisemitischen Äusserungen Eberles bereits vor Jahren nachgewiesen. Die Historikerin Ursula Amrein beispielsweise schreibt von «einer deutlich antisemitischen Position». Auch habe Eberle «die antiliberale Position der politischen Rechten» in der Schweiz «geteilt», und für ein «schweizerisches Staatsfestspiel» plädiert, «das unverkennbar das nationalsozialistische Thingspiel zum Vorbild» gehabt habe. Greco-Kaufmann beklagt hingegen: «In der neueren Forschung» werde Eberle – «meist mithilfe von Analogieschlüssen und unspezifischen Hinweisen auf seine Kontakte zu problematischen Persönlichkeiten – eine Nähe zu völkischem und nationalsozialistischem Gedankengut» unterstellt. Fakt ist, bei einiger seiner Festspiel-Inszenierungen hatte sich Eberle von der Formsprache nationalsozialistischer Theater inspirieren lassen. Allerdings lassen sich ihm auch keine nazistischen Aussagen nachweisen, antisemitische hingegen schon.
«Üble rassistische Stereotypen» über Juden
Selbst Greco-Kaufmann attestiert Eberle die Verbreitung von «üblen rassistischen Stereotypen» über die Juden, insbesondere in seinen Tagebuch-Einträgen. Bei seiner ersten Deutschlandreise nach Breslau beispielsweise fallen dem jungen Schwyzer zuerst auf: «Juden, krummnasige, knoblauchfressende, befleckte, Pretzel, polnische Blutsauger.» Mit «polnischen Blutsaugern» bezeichnete Oskar die zur Zeit der Weimarer Republik eingewanderten meist mittellosen Juden, die aus Russland und Osteuropa vor der Revolution geflohen waren. Und über das unruhige, laute, moderne Berlin der Zwischenkriegszeit schnödete Eberle: «Mit der Bahn, der Elektrischen, zu Fuss, im Auto, in der Untergrundbahn, in der Trutschke: Pfui Teufel. Dabei ringsum die Tingeltangelmusik, das freche Judenvolk, Tanz, Variétés, Cabarets, Theater, Konzerte. Kino, Tingeltangel, nochmals: Pfui Teufel!» Wie viele Konservative verband Eberle die Ablehnung der Moderne mit antisemitischen Judenbildern.
In einem Text, erschienen 1929, Greco-Kaufmann bezeichnet ihn als «Schlüsseltext», schreibt Eberle – wie auch Nazis – von «Rasse» und schwadroniert von einem «volksbiologischen Grund»: Die Juden seien «eine aufsteigende Macht», und «empfindlicher und anspruchsvoller in Lebensdingen» als «wir abgelebten Europäer». Gefolgt von der Anrufung des antisemitischen Judenbild «Schmarotzer», konkret «das skrupellose geschäftliche Ausbeuten der jüdischen Erotik auf Kosten der nichtjüdischen Volksgenossen».
Dies alles sei kein Beleg für Eberles Antisemitismus, findet Greco-Kaufmann. Einerseits habe Eberle viele jüdische Bekannte/Freunde gehabt und seine Kritik an der jüdischen Dominanz im Berliner Theaterbetrieb sei berechtigt gewesen und auch von Alfred Kerr und Herbert Jhering geteilt worden. Nur die beiden berühmten Theaterkritiker der 1920er-Jahre kritisierten die Theater und ihre Leistungen, Eberle hingegen zielte verallgemeinernd auf die jüdische Herkunft der Theaterbesitzer.
Basis für Greco-Kaufmanns Beschönigung sind einige erhaltene Agenden Eberles, die bis anhin wissenschaftlich nicht ausgewertet worden waren. Durch diese Einträge lasse sich belegen, dass er sich im Winter 1932/1933 bei einem Aufenthalt in Berlin «fast ausschliesslich in den Kreisen bedrohter jüdischer sowie antifaschistisch eingestellter christlicher Wissenschaftler, Theaterschaffender und Publizisten» bewegt habe. Keine Hinweise gäbe es hin hingegen für Treffen mit «Anhängern der Nationalsozialisten», noch für Sympathien für deren «Ideologie».
Nationalistisch inspiriert war Eberles Kampf gegen «ausländische» Schauspielerinnen und Schauspieler an den Deutschschweizer Berufstheatern. Auch hier bediente er sich aus dem Jargon der «Fremdenfeinde». Er behauptete «eine Invasion fremder Schauspieler», die «ungehindert ins Land» habe «fluten» können.
Passionsspiele
Jahrzehntelang hatte die schweizerische Geschichtsschreibung den Antisemitismus von Katholisch-Konservativen ausgeblendet. Bis der Fribourger Historker Urs Altermatt – im Gefolge der Auseinandersetzungen um die Nachrichtenlosen Vermögen – feststellen musste, dass Antisemitismus "einen inhärenten, ja konstitutiven Bestandteil der Weltanschauung" von Katholisch-Konservativen darstellte. Festmachen lässt sich dies auch an den Passionsspielen, der theatralischen Darstellung des Leidens und Sterbens von Jesus Christus. Sie brächten, so Altermatt, «auf eindringliche Weise antijudaistische Stereotype zur Darstellung». Zweimal inszenierte Eberle in Luzern Passionsspiele (1934 und 1938). Bei der ersten Inszenierung habe, behauptet Greco-Kaufmann, «ein demonstratives Zeichen gegen die Vorgänge in Nazideutschland setzen» wollen.
Auch hier verwedelt Greco-Kaufmann. Zwar waren einige Männer, deren Ablehnung faschistischen Gedankengutes eindeutig ist, an der Produktion beteiligt gewesen sein. Deren Einfluss auf die Produktion bleibt allerdings unklar. Andererseits geht sie auf die detaillierte Studie der Luzerner Historikerin Veronika Voney nicht ein, dass bei Eberle «die Juden des Spiels» als «geldgierig, rechthaberisch und rachsüchtig dargestellt wurden. Voney stellte auch fest, dass sich der antisemitische Ton beim Passionsspiel 1938 noch verschärft habe. Bereits 1933 – bei den Vorbereitungen seiner ersten Inszenierung – schrieb Eberle entlarvend: Von seinem Standpunkt aus müsste «Judas ins Dämonische» gesteigert werden, so dass «nicht mehr Judas als Mensch, sondern als Teufel» spreche.
Greco-Kaufmanns These, Eberle sei Teil eines antifaschistischen Zirkels gewesen, überzeugt nicht. Sie liefert denn auch keine Belege für gemeinsame Aktionen oder Stellungsnahmen, an denen Eberle beteiligt war. Zeit seines Lebens blieb Eberle verhaftet in einer voraufgeklärten Vergangenheit, in der demokratische Rechte – wie auch die allgemeinen Menschenrechte – nur beschränkt Bedeutung hatten.
Kasten
Eberles Weg ins Abseits
Das Buch «Theaterpionier aus Leidenschaft. Oskar Eberle (1902-1956)» ist ein Ergebnis des Nationalfonds-Projektes «Identitätsdiskurs, Theaterpolitik und Laienspielreform». Es schloss die Erschliessung eines Teils des umfangreichen Nachlasses von Oskar Eberle mit ein. Dieser ist heute aufbewahrt im Schweizer Archiv für Darstellende Künste in Bern. Das Buch enthält auch eine Studie von Tobias Hoffmann-Allenspach über Eberles «gescheiterten Lebenstraum: Die Schaffung nationaler Festspiele in Luzern».
Der umtriebige Eberle riss in den 1930er-Jahren die Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für Theaterkultur an. Er setzte auf Festspiele und Laienaufführungen. Er inszenierte mehrere Male Calderons Welttheater in Einsiedeln und zweimal (1934 und 1938) die Passionsspiele in Luzern. Er war Regisseur mehrerer Festspiele, darunter des «Bundesfeierspiel» (1941) zum 650jährigen Bestehen der «Eidgenossenschaft», verfasst vom Schriftsteller Caesar von Arx, mitgestaltet von Bundesrat Philipp Etter. In Luzern ist er bekannt als Mitbegründer der Luzerner Spielleute (1934). Als Eberle 1956 starb, war er – nach dem ersten gesellschaftlichen Modernisierungsschub nach 1945 - bereits aus der Zeit gefallen. Und die Spielleute hatten den Erotomanen verabschiedet, wegen des übergriffigen Verhaltens gegenüber Frauen. (HS)
Heidy Greco-Kaufmann/Tobias Hoffmann-Allensbach. Theaterpionier aus Leidenschaft. Oskar Eberle (1902-1956). Chronos Verlag, Zürich.