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Verdrängte Geschichte

Die Schweiz hat grossen Aufarbeitungsbedarf, was die Geschichte der nationalsozialistischen Fronten der 1930er-Jahre angeht

Vor fünfzig Jahren erschienen die beiden grundlegenden Werke über die nationalsozialistische Schweizer Frontenbewegung, Walter Wolfs „Faschismus in der Schweiz“ und Beat Glaus‘ „Die Nationale Front“. Trotz Zugang zu vielen neuen Akten sind in der Zwischenzeit keine umfassenderen Darstellungen über die Schweizer Rechtsextremisten der Zwischenkriegszeit  erschienen. Auch Yves Schumachers neues Buch „Nazis! Fascistes! Fascisti! Faschismus in der Schweiz“ wird die Lücke nicht füllen.

Ausgewiesener Aufarbeitungsbedarf
Yves Schumacher, Kommunikationsberater, Inhaber einer PR-Agentur und Verfasser eines kürzlich geschriebenen Buches über den „Faschismus“ in der Schweiz“ schreibt zutreffend von einem „politischen Erbe“, das der „Nachkriegsgeneration“ zu erschliessen sei. Den Unwillen zur Auseinandersetzung mit der rechtsextremen Vergangenheit kritisierte unlängst auch der Freiburger Zeitgeschichte-Historiker Damir Skenderovic, dies führe dazu, „dass die extreme Rechte sozusagen exterritorialisiert“ werde.

Die meinungsführenden Schichten der Schweiz hatten sich kurz nach Kriegsende von nationalsozialistischen wie faschistischen und antisemitischen Tendenzen entlastet. Selbst Schumacher behauptet, „der Judenhass“ zahlreicher Westschweizer Politiker und Publizisten aus dem rechtsbürgerlichen Lager sei „weniger vom Rassismus Hitlers genährt“ gewesen, sondern „von der ethnischen Zusammensetzung der Bolschewiken“, da ja „deren Kaderpositionen von vielen Juden bekleidet“ worden seien. Er macht damit die Juden einerseits – zumindest teilweise - selbst für den Antisemitismus verantwortlich, andererseits evoziert er damit selbst ein bekanntes antisemitisches Judenbild.
Schumachers Darstellung ist flüssig geschrieben, eher anekdotisch, die fehlende analytische Schärfe kompensiert der Autor gelegentlich mit politischen Kurzurteilen bürgerlicher Stammtische.

Porträtierte Frontisten
Anders als die bisherigen Darstellungen beschäftigt Schumacher sich mit den frontistischen Bewegungen aller drei grossen Schweizer Sprachregionen. Er skizziert die irredentistische Bewegung, die den Anschluss der italienischsprachigen Schweiz an Mussolinis Italien anstrebte. Besonders ausführlich beschreibt er die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Benito Mussolini durch die Universität Lausanne. Auch aus familiären Gründen. Drei seiner Enkelkinder, mutmasst Schumacher, würden sich vielleicht einmal über einer ihrer Vorfahren wundern, „dem Mussolini sein Ehrendoktorat der Universität Lausanne zu verdanken“ habe.

Dazu porträtiert Schumacher bekannte Frontenführer, wie den „Waadtländer Duce“ Oberst Arthur Fonjallaz, den Genfer Nazi Géo Oltramare und den Luzerner Arzt und Waffen-SSler Franz Riedweg, der in Nazi-Deutschland Karriere machte.

Wer das Buch liest, erhält eine überblickende Darstellung einer politischen Strömung, die in der Schweiz erst wieder Ende der 1980er-Jahre die Öffentlichkeit suchte. Benutzerfreundlich das Personenregister und die „Zeittafel“, lesefreundlich die Gestaltung des Buches.

Yves Schumacher, Nazis! Fascistes! Fascisti! Faschismus in der Schweiz, 1918-1945. Orell Füssli Verlag, Zürich.

Hans Stutz
Tachles, 11. Oktober 2019
Alle Rechte beim Verfasser.