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"Wie eine konservativ-reichsdeutsche Elite"

Der Luzerner Heinrich Walther war jahrzehntelang einer der einflussreichsten Katholisch-Konservativen. Eine neue Studie bescheinigt ihm eine antisemitische Haltung und ein sympathisierendes Verhältnis zum Nationalsozialismus.

Der italienische Faschismus habe «selbst noch in den dreissiger Jahren eine durchaus gute Presse» gehabt, urteilt der Historiker Eric Hobsbawn, «ausser natürlich vom liberalen und linken Spektrum». Auf die Schweiz übertragen: Neben einer «antidemokratischen Rechten» (Hans Ulrich Jost) und der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei BGB, beurteilten auch die Katholisch-Konservativen sowohl den italienischen Faschismus wie den deutschen Nationalsozialismus nachsichtig, während sie deren konsequentesten Gegner bekämpften. Und auch: Sie übersahen die Leiden der Verfolgten (Juden und Linke, Sinti und Romas, Schwule & Lesben).

Die Schweizer Geschichtsschreibung, voran die «Freiburger Schule» um den Historiker Urs Altermatt, beschrieb die Katholisch-Konservativen bis anhin mit nachsichtiger Unschärfe. Altermatt schwärmte von den «goldenen Jahren des Milieukatholizismus». Er wollte jahrzehntelange deren Antisemitismus nicht erkennen, um dann feststellen zu müssen, dass Antisemitismus ein «konstitutiver Bestandteil der Weltanschauung» der Katholisch-Konservativen war.

Nun bietet der Luzerner Historiker Patrick Pfenniger eine realistischere Einschätzung eines der einflussreichen katholisch-konservativen Schweizer Politiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Heinrich Walther, in Deutschland geboren, in Kinderjahren ins stockkatholische Sursee/Kanton Luzern gezogen, früh den Vater verloren. Sechszehnjährig konvertiert er zum katholischen Glauben. Er studiert Jus, wird 1893 mit 32 Jahren Regierungsrat und bleibt 43 Jahre lang im Amt. Dazu ist er ab 1908 Nationalrat. 35 Jahre lang, davon über 20 Jahre Katholisch-Konservativer Fraktionspräsident. Er gilt als Strippenzieher („Königsmacher“) bei den Bundesratswahlen von 1919 bis 1940 und verhalf im Frühling 1934 Philipp Etter zum Sprung in die Landesregierung. Er starb 1954, 92-jährig.

Strikte Neutralität und rigider Eigennutz
In den Jahren des dominierenden «Milieu-Katholizismus» politisierten Katholisch-Konservative angewidert von den Gleichheitsvorstellungen der Französischen Revolution. Auch Walther blieb christlich, paternalistisch und elitär. Gemäss dessen Verständnis, so Pfenniger, «besassen weniger privilegierte Menschen kein Recht, auf manifeste Art Forderungen zu stellen». Sie hätten «mit dem Vorlieb zu nehmen, was ihnen von gesellschaftlichen Eliten zugebilligt oder von ihnen für sie eingefordert wurde.»

Den deutschen Angriff auf die Sowjet-Union verfolgte Walther mit Sympathien. In den Jahren zuvor hatte der Nationalrat mehrere Vorstösse für die Schweizer Einbettung in die deutsch-nationalsozialistisch dominierte Wirtschaftsordnung eingereicht. Einfügung ins «Neue Europa», nannte er dies in seinem berühmten Aufsatz «Sacro Egoismo» (Heiliger Eigennutz), erschienen im Frühling 1941. Er plädierte für eine «strikte Neutralität» und behauptete: «Das Verhängnis der Nachtkriegsjahre» habe Hitler «zum Schicksal für Deutschland» werden lassen. «Wir» verständen die «Dankbarkeit und Hingabe des deutschen Volkes». Als er im Herbst 1942 erkannte, dass Nazi-Deutschland wohl den Krieg verlieren werde, schwante ihm kulturpessimistisch der „Untergang des Abendlandes“.

Einsatz für SS-Mann Riedweg
Nach 1945 misstrauten viele Konservativen der US-amerikanischen Politik, ebenso deren Kultur. Auch Walther, seit Jahrzehnten germanophil. Das Kriegsende war für ihn ein Gräuel, so die gesellschaftlichen Liberalisierungen, wie auch die alliierten Kriegsverbrecherprozesse gegen Nazigrössen. Er hielt viele Angeklagte für «Männer, die guten Glaubens waren», doch nun «an den Galgen oder doch ins Zuchthaus gebracht werden sollten».  Hinter den Kulissen engagierte er sich für den Luzerner SS-Obersturmbannführer Franz Riedweg, verurteilt Ende 1947 vom Bundesstrafgericht wegen Landesverrat zu 16 Jahren Gefängnis. Walther bezeichnet den Himmler-Bewunderer als «Opfer ruchloser ‘Naziführer’, der sich von «grossen Worte» haben blenden lassen.

Die Katholisch-Konservativen waren opportunistische Techniker der Macht, dominant in ihren Stamm-Kantonen, filigran verbunden und einflussreich im freisinnig-dominierten Bundesbern. Der langjährige Machterhalt stützte sich auch auf die Kontrolle die historische Erinnerung. Und so betrieben die Innerschweizer KK-Exponenten nach 1945 Quellenverdünnung, der Zuger Philipp Etter ebenso, wie der spätere Obwaldner-Bundesrat Ludwig von Moos. Und auch Heinrich Walther. In einem Brief an seinem «Intimus» (Pfenniger) Etter schrieb Walther über eine Verbrennungsaktion anno 1949: „Hätte man aber diese Briefe in meinem Nachlass einmal gefunden, würde man mich selbst vielleicht auch frontistischer Allüren bezichtigt haben!“ Vernichtet hat er eine «grosse Korrespondenz» mit Frontisten, betrieben 1940-42, in den Zeiten der nazideutschen Kriegserfolge. Es sei sein Plan gewesen, so Walther, die „frontistische Bewegung in gute Bahnen leiten zu können.“

Walther und sein Denkkollektiv
Allerdings urteilt Pfenniger nicht konsequent über Walthers Verhältnis zum Nationalsozialismus. Für den Frontenfrühling 1993 schreibt er – wie anderen Bürgerlichen auch - dem bereits 71-Jährigem ein «Fehlurteil» zu, beruhend auf «Naivität» und auf «Desinteresse an der neuen politischen Konstellation». Ein anderes Mal attestiert er Walther «Unvermögen». Damit stellt er sich in Widerspruch zu seiner Schluss-Einschätzung: Walther - und die Männer seines «Denkkollektivs» (Etter, Rothmund, Eugen Bircher, Wille jun. & einige andere mehr) - hätten sich «wie eine konservativ-reichsdeutsche Elite» weniger den Werten von 1776 und 1789 verpflichtet gefühlt, «vielmehr einem aufklärungs- und demokratiekritischen Wertekanon» aus dem 19. Jahrhundert. Oder anders ausgedrückt: Faschisten/Nationalsozialisten waren diese ‘Denkkameraden’ zwar nicht, noch weniger waren sie Antifaschisten, nicht einmal liberal. Sie strebten das an, was der verstorbene polnische Soziologe Zygmunt Bauman «Retrotopia» nennt: Ein politischer Zufluchtsort, ersehnt von Menschen, die ihre idealisierte Zukunft «aus der verlorenen/geraubten, verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit» erfinden. Nicht gelten sollte «Alle Menschen sind frei und gleich an Rechten», sondern weiterhin «Sacro Egoismo» oder nazi-zynischer «Jedem das Seine».

Patrick Pfenninger. Sacro Egoismo! Heinrich Walther und das nationalsozialistische Deutschland. Schwabe Verlag, 2022.

Kasten
Walther und die Juden
Walthers Verhältnis zu den Juden erhielt bis anhin eine positive Schilderung. Auch Patrick Pfenniger erwähnt dessen zahlreichen Kontakte zu Exponenten der jüdischen Gemeinschaft der Schweiz, ebenso sein Eintreten für deren Interessen. Zur Zeit des Ersten Weltkrieges, als die Einfuhr von koscherem Fleisch aus Frankreich unmöglich war, half Walther mit, dass in Sursee in einem Schlachtbetrieb Fleisch gemäss der jüdischen Tradition geschlachtet werden konnte. Er engagierte sich Anfang der 1920er-Jahren zusammen mit Exponenten des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund SIG für die Abschaffung antikatholischer und antijüdischer Verfassungsartikel. Er unterstützte beim Luzerner Zionistenkongress 1935 (und auch später) die Schaffung eines Judenstaates.

Nun kommt Pfenniger zum Schluss: Walther habe «offensichtlich über antisemitische Ressentiments“ verfügt. So schrieb dieser in einem Brief an seinen Freund Heinrich Rothmund, Chef der Polizeiabteilung des EJPD, dass er den NS-Antisemitismus „bis zu einem gewissen Grad“ nachvollziehen könne. „Die Juden“ hätten „speziell auch in Deutschland eine böse Rolle gespielt“. Man müsse den vorhandenen Hass „daher bis zu einem gewissen Grad begreifen“.

Pfenniger erwähnt auch Walthers Intervention bei der Flüchtlingsdebatte im September 1942- Walther unterstütze explizit Bundesrat Steigers Ansicht, dass der «Normalschweizer» ein Gemisch sei «von vernunftbegabter Seele und christlicher Erbträger». Und warnte vor «einer Überflutung mit zweifelhaften Elementen». Walther beschwor die Gefahr einer «Unmenge von Leuten», die „aber nach verschiedener Richtung für absolut indésirables“ seien.

Pfennigers Fazit: Walthers Antisemitismus zeichne sich durch eine „prophylaktische“ Komponente und «einer xenophob motivierten Ablehnung» aus. Ähnlich schätzt der Historiker Jacques Picard «die schweizerische Spielart des Antisemitismus» ein, «als Abwehrinstrument sowohl gegen das gefährliche Ausland wie gegen dessen Opfer».

Belegstellen für Pfennigers Einschätzung finden sich auch in der Tätigkeit Walthers als Vorsteher des Militär- und Polizeidepartements des Kantons Luzern. (Von Pfenniger nicht untersucht.) «Sehr wenig sympathisch», befand Walther die Erteilung von Einreise- und Aufenthaltsbewilligungen für zwei deutsche jüdische Familien, die eine konkursbedrohte Entlebucher Holzfirma übernehmen wollten. Das Dilemma von Walther: Der Bankrott hätte auch die Existenz einer lokalen Regionalbank bedroht. Die Immigranten retteten die Firma, die beiden jüdischen Familien blieben unerwünscht. 1940 gelang ihnen die Flucht aus Europa.

Die praktizierte Ablehnung jüdischer Flüchtlinge wird in einem Briefwechsel angedeutet, den Rothmund und Walther und Ludwig F. Meyer, Anwalt und freisinniger Luzerner Nationalrat 1937 führten. Die beiden Luzerner waren einverstanden, dass vermögenden älteren Deutschen der Aufenthalt in der Schweiz ermöglicht werden sollte. Meyer fügte eine ebenso diskrete wie unmissverständliche Kritik hinzu: «Und wenn nun diese Ausländer in höherm Alter vielleicht das Unglück haben, als Juden auf die Welt gekommen zu sein, dann wird man aus diesem Umstand doch wohl nicht ein besonderes Motiv für die Ablehnung herleiten wollen.» Anzunehmen ist, dass Meyer damit Walther wie Rothmund von einem Sinneswandel in der Flüchtlingspolitik überzeugen wollte. (HS)

 

Der Text erschien in Tachles, 2. Februar 2024, hier leicht bearbeitet wegen einigen Detailfehlern.

 

Hans Stutz
Tachles, 2. Februar 2024
Alle Rechte beim Verfasser.